Die Kirche ist weitgehend nur noch mit sich selbst beschäftigt und verliert die Fragen und Bedürfnisse der Gesellschaft aus dem Blick. Das wirft der Theologe und politische Philosoph Jürgen Manemann der Glaubensgemeinschaft vor, insbesondere den Amtsträgern sowie organisierten Laien. In der österreichischen Wochenzeitung „Die Furche“ erklärte er angesichts ihres 75-jährigen Jubiläums: „Wir kämpfen mehr um die Institution Kirche als um die Lebensform Christentum.“ Damit habe man sich vom Leben und den alltäglichen Sorgen der Einzelnen entfernt und wirke für viele ungreifbar: „Das Problem ist, dass wir eine Lösung für ein Problem anbieten, das viele Menschen gar nicht haben.“
Auch die Hoffnung, aufgrund der existenziellen Fragen, die die Corona-Krise aufwirft, würden mehr Menschen zum Glauben zurückfinden, habe sich nicht erfüllt. Zwar spürten viele eine „Leerstelle“ und machten sich auf eine ganz private Sinnsuche, aber die Kirche sei dabei keine Anlaufstelle. „Ich nehme wahr, dass mehr Menschen darüber nachdenken, was es heißen könnte, ein gutes Leben zu führen. Menschen beginnen zu entdecken, dass es ein Leben jenseits des Konsums gibt.“ Kirchliche Einrichtungen hätten sich während der Krise sehr zurückgezogen und – etwa in Pflegeheimen – zu wenig auf die Bedürfnisse der Schwächsten geachtet. „Ältere, aber auch junge Menschen und vor allem Sterbende wurden hier alleingelassen. Das hätte nicht passieren dürfen.“
Um aus dem Teufelskreis des Selbstmitleids auszubrechen und sich mehr auf die Probleme der Welt einzulassen, rät Manemann zu einem Perspektivwechsel: „Wir sollten heute die Schöpfung von der Apokalypse her neu lesen.“ Der Rückbezug auf die biblische Offenbarung des Johannes könne helfen, sich mit der Befristung des menschlichen Lebens auseinanderzusetzen und Machtstrukturen in Frage zu stellen – mache aber auch sensibel für die Ungerechtigkeiten der Welt. „In der Johannes-Apokalypse heißt es, dass Gott die Tränen abwischen wird. Das bedeutet, die Vision der Apokalypse auf einen neuen Himmel und eine neue Erde gilt nur denen, die Tränen in den Augen haben.“