Die Bundeskanzlerin hatte den Weitblick und schon im Spätsommer vorausgesehen, dass die zweite Welle der Corona-Seuche dramatischer wird als die erste. Aber die Ministerpräsidenten wollten ihr nicht darin folgen, strengere Beschränkungsmaßnahmen zur Vorbeugung zu ergreifen. Taktiererei und Machtspiele mündeten im Zerreden, in der Opportunität, es sich mit „dem Volk“ nicht zu verscherzen. Der eine möchte Parteivorsitzender, ja Kanzlerkandidat werden, der andere die AfD einbremsen. Eine Kultusministerin mit Ambitionen aufs Ministerpräsidentenamt wehrte sich gegen wenige Tage frühere Quarantäne-Weihnachtsferien, weil die Eltern ihre Kinder nicht selber betreuen wollen. Eine Schule ist aber keine Verwahranstalt. Warum nicht überhaupt deutlich längere Ferien jetzt, dafür erheblich kürzere im Sommer, wenn die Infektionsgefahr geringer ist? Nächstes Jahr sind Wahlen. So mancher hat dann etwas zu verlieren, nur Angela Merkel, die nicht mehr antritt, nicht. Daher hatte sie den Mut, dem Volk die Wahrheit zu sagen, Unbequemes vorzuschlagen, konnte sich aber nicht durchsetzen. Die Politik(er)schwäche ist offenkundig. Nicht selten steigert sie sich zur Politikerangst vor den Wählern.
Seuchenbekämpfung ist weitgehend Ländersache. Hier aber offenbarte das föderalistische System voller Zersplitterung seine Schwäche. Dabei schlägt bei Epidemien die Stunde einer handlungsstarken Exekutive. Wie ausgerechnet ein freisinnig-liberaler Schweizer Politiker, erprobt in kantonaler Autonomie und in Volksabstimmungen, im Gegensatz zu deutschen liberalen Protagonisten sagte: „Es ist so logisch, dass der Staat in einer schweren Krise die Macht bündeln muss.“ Und: „Wenn es Krieg gibt, können Sie nicht mit direkter Demokratie und Föderalismus den Gegenangriff starten.“
Sind diktatorische Systeme bei großen Bedrohungen wie jetzt besser gerüstet als Demokratien, durchsetzungsfähiger? China, wo das Virus niedergerungen wurde, legt das nahe. Aber dort hat die weiterhin konfuzianisch geprägte Kultur der Unterordnung unter Autoritäten vieles erleichtert. In der Autokratie Russlands funktioniert es nicht. So bleibt die Frage, wie gestaltungsstark eine Politik, die sich global immer mehr einem Primat der Wirtschafts- und Konsuminteressen beugt, überhaupt noch sein kann. Das Höchste demokratischer Politik ist der Kompromiss, die Kunst des Möglichen, heißt es. Trotzdem: Hätten wir in Deutschland doch besser auf eine ansonsten eher pragmatische, in der Seuche jedoch lieber kompromisslose Kanzlerin gehört und auf die führenden Virologen, die sich nach Anfeindungen aus der Öffentlichkeit tendenziell zurückgezogen haben und deren Stimme in den Medien zuletzt weniger erwünscht war.