Heimelig soll es sein, gemütlich, behaglich – alle Jahre wieder: das Fest der Liebe, der Familie, der Freude und des Friedens. Nirgendwo sonst auf der Welt ist Weihnachten mit derart tiefen Gefühlen der Glückseligkeit, der menschlichen Wärme und Nähe, der Melancholie, aber auch einer wohligen Rückerinnerung an die eigene Kindheit verbunden wie in den deutschsprachigen Ländern. Der Jahreskreis hat hier seinen eigenen Rhythmus jenseits von Silvester: Von Weihnachten kommt er, auf Weihnachten zielt er hin. Selbst die christlich weniger Frommen, die Andersglaubenden oder Nichtglaubenden können und wollen sich dem Zauber dieser Tage nicht entziehen, wenn auch viele, vorwiegend jüngere Leute, jener kollektiv inszenierten Emotionalität am Winterbeginn entfliehen und in sonnigere, sommerliche Gefilde abtauchen. Doch ein Tannenbaum sollte in den Hotels an den Traumstränden Thailands oder Ägyptens dann doch nicht fehlen. Diesmal wird etliches allerdings anders sein – wie so vieles in den auf Abstand bedachten Corona-Zeiten.
Wochenlang hatte die Politik versucht, durch Mobilitäts- und Kontaktbeschränkungen die Ausbreitung des gefährlichen Virus so weit einzuhegen, dass gewisse Lockerungen für Besuche zumindest an den „heiligen“ Tagen möglich werden. Vergebens. Nun also die strengen Regeln zum Herunterfahren des öffentlichen wie privaten Lebens. Auch die für Liturgisches Verantwortlichen hatten seit Monaten vorgeplant – mit Bibel-, Lied- und Gebetstexten für ein „Homechristmas“, mit Gottesdienst-Livestreams im Großen und im Kleinen, mit Christmetten und Krippenspielen in Autokinos, mit ökumenischen Feiern auf großen Plätzen, im Stadionrund, sogar auf Wiesen und Feldern. Etliches davon ist jetzt Makulatur. Das Fest des Friedens muss zudem ohne Friedensgruß per körperliche Berührung auskommen, und selbst in größeren Kernfamilien wird es kein gemeinsames „Stille Nacht, heilige Nacht“ wie früher geben. Distanz ist angesagt, aus Verantwortung, aus Nächstenliebe.
Weihnachten wird diesmal also nicht so routiniert und ritualisiert ablaufen wie sonst. Im religiösen Tun und Empfinden allein schon aufgrund der strikten Zugangsbegrenzung beim Gottesdienst. Außerdem werden etliche ansonsten treue Kirchgänger aus Furcht vor Ansteckung den liturgischen Versammlungen fernbleiben, nachdem sie schon das Jahr über aus Vorsicht Gottesdienste gemieden hatten. Dabei war in den ohnehin schon vor Corona am Sonntag spärlich besetzten Kirchenbänken die Gefahr gering. Die Hygienemaßnahmen waren in Gotteshäusern im Allgemeinen weitaus strenger angeordnet und beachtet als in Kaufhäusern oder Lebensmittelläden, geschweige denn im Gedrängel von Bussen und Bahnen, wo nicht nur zu Stoßzeiten die Scharen zusammentreffen.
Mir fehlt etwas
Weihnachten ohne übliche Weihnachtsstimmung – Weihnachten gar ohne Weihnachten? Das sogenannte Weihnachtschristentum hat durch das gefährliche Virus 2020 einen heftigen Schlag versetzt bekommen. Er trifft nicht nur jene, die sich vorwiegend aus kulturellen oder folkloristischen Brauchtumsgründen einzig zu Heiligabend in ein Gotteshaus bewegen, wobei zunehmend vielen inzwischen die Teilnahme an einem Krippenspiel reicht, um sich an den eigenen Kindern oder Enkelkindern als Mitspielenden zu erfreuen. Besonders hart trifft er jene, die Weihnachten als eigentliches Christusfest feiern möchten, als Inkarnation – Fleischwerdung – des göttlichen Geistes, des Logos im Menschensohn und Gottessohn: „Tau aus Himmelshöhn, Heil, um das wir flehn: Herr, erbarme dich.“
Gerade weil es nicht so ist, wie es immer ist, könnte es diesmal tiefer gehen. Vielleicht können wir jetzt nachvollziehen, was der Theologe Johann Baptist Metz einmal meinte mit seiner Aussage: Die kürzeste Definition von Religion ist Unterbrechung! Also nicht Routine. Weihnachten ist nun tatsächlich unterbrochen, so massiv wie schon lange nicht mehr, jedenfalls für die jüngeren Generationen, welche die Kriegsweihnachten von ehedem nicht erlebt haben und allenfalls aus Erzählungen kennen. Wenn das Gewohnte ausfällt, könnte sich der Blick, weil unverstellt, besser als sonst nach innen wenden. Die Mangelerfahrung im Äußeren könnte eine heilsame Mangelerfahrung im Spirituellen freisetzen: Mir fehlt etwas. Mir fehlt etwas, was sich im Getriebe der Welt wie in der Geschäftigkeit des Kirchlichen nicht mehr so recht einstellt. Mir fehlt: Gott!
Ausgerechnet am Hochfest der göttlichen Offenbarung erfahren wir inmitten der Dramatik der für Hunderttausende, womöglich Millionen Menschen tödlichen Seuche die Dramatik des real abwesenden Gottes, nicht nur des verborgenen Gottes. Statt eines moralisierenden „Adam – wo bist du?“ nun ein glaubenserschütterndes „Gott – wo bist du?“. Das Fest einer ansonsten positiven, bestätigenden Theologie des Gottes, der sich im Kind in der Krippe aller Welt präsentiert, schlägt um in eine negative Theologie des entzogenen Gottes. Was Mystiker wie Johannes vom Kreuz oder Teresa von Avila als dunkle Nacht des Glaubens voller Zweifel erlebt haben, könnte in der Radikalität einer dunklen Heiligen Nacht die Vielen aufschrecken, die zweifel-los Frommen am allerheftigsten. Doch ohne solches Beben an der Wurzel unserer Existenz – wenigstens von Zeit zu Zeit – verflüchtigt sich der Glaube, lahmt die Hoffnung, schwächelt die Liebe.
Aber Krise ist Krise
Lesen wir zur Heiligen unheiligen Nacht nur einmal nicht bloß das übliche Lukasevangelium von der Krippe zu Bethlehem und den Engeln über den Hirten auf weiten Fluren, sondern ergänzend das, was im Kontext der zu Buße und Umkehr rufenden Täuferbewegung ebenfalls bei Lukas beschrieben ist: „Das Volk war voller Erwartung.“ Dabei die „Stimme eines Rufers in der Wüste: Bereitet den Weg des Herrn! Macht gerade seine Straßen! … Bringt Früchte hervor, die eure Umkehr zeigen.“ Weihnachten ohne Weihnachten könnte weihnachtlich werden im Sinne einer ernsthaften Buße unserer Kultur, unserer Zivilisation, unserer Gesellschaft, unseres Staatswesens, unseres Volkes in der Wüste. Corona sei keine Strafe Gottes, hatten Theologen sich bemüht, die Krise zu entschärfen und ihr den theologisch-existentiellen Stachel zu nehmen. Aber Krise ist Krise. Und Krisen haben es in sich, weil sie einen echten Stachel setzen mitten in die Alltäglichkeiten und Gereimtheiten des Daseins hinein, um das Ungereimte ins Bewusstsein zu bringen. Könnte so einem Corona-Weihnachten im Zeichen von Trauer, Angst und Schmerz ein Umschlag, eine Horizonterweiterung gelingen hin zu dem, was uns auch religiös zu entschwinden droht? Gerade aus der Krise können sich Freude und Hoffnung neu aufrichten und ausrichten auf die Zuwendung Gottes, die biblisch in Jesus Christus verheißen ist.
Ein Kirchenfasten fürs Mysterium
Weihnachten – mir fehlt etwas. Kaum jemand hat das an der Nahtstelle zwischen Glauben und Nichtglauben derart bewegend ausgedrückt wie der Schriftsteller Martin Walser. Am Tag vor Heiligabend 2014 wurde er in einem Interview darauf angesprochen, dass immer weniger Menschen die Kirchen besuchen. Geht uns die Begabung zum Glauben verloren? In seinem Roman „Muttersohn“ heiße es über den Protagonisten Percy doch, er habe eine Begabung zum Glaubenkönnen. Darauf Walser: „Percys Mentor, Professor Feinlein, sagt: Es gibt Leute, die können glauben – und andere können das nicht, die sind gar nicht glaubensfähig. Viele Intellektuelle sind heute mehr oder weniger stolz darauf, dass sie Atheisten sind. Ich sage: Auch wenn es Gott nicht gibt, dann fehlt er mir. Deswegen könnte ich nie Atheist werden. Mir fehlt Gott. Es wäre toll, wenn es den gäbe!“ Und zum Weihnachtsevangelium sagte der Schriftsteller: Es „ist die schönste Geschichte, die je geschrieben wurde. Es gibt keine schönere in der Weltliteratur. Ich habe das erst vor fünf, sechs Jahren entdeckt. Und seitdem sage ich mir immer, dass ich beim Schreiben daran denken sollte. Das muss einen doch zu etwas bringen, diese Geschichte. Aber wenn ich dann schreibe, vergesse ich es!“
Kann dieses das ganze Jahr über und selbst zur Weihnachtszeit andauernde Vergessen an diesem „unmöglichen“ Weihnachtsfest womöglich ganz unfestlich aufgebrochen werden? Mit fehlt etwas. Aber um dieses Fehlen dreht sich mein Leben. Dieses Vage, Unsichere, Bohrende, Beunruhigende möge mich nicht loslassen: Gott fehlt mir. Vielleicht ist gerade daraus ein dialektischer Umschlag möglich, sogar oder erst recht an diesem Weihnachten? Indem er mir fehlt, indem nichts so ist, wie wir es gewohnt sind, ist Er mir nah, näher und innerlicher, als ich mir selber bin.
Für nicht wenige ist Weihnachten dieses Jahr eher ein Weihnachtsfasten. Ein karges, nicht so stimmungsgemütliches, ein irgendwie fremdartiges, etwas wehmütig-trauriges Fest. Doch so könnte es an Tiefe gewinnen und dem einen oder anderen helfen, eine mystische Christusbezogenheit neu zu entwickeln, eine Christozentrik hin auf jene Gestalt, die uns als Protagonist der Hoffnung auf Erlösung und Rettung den Himmel erschlossen hat. Ein Weihnachtsfasten, um Weihnachten eindrücklicher zu erfahren und wiederzuentdecken: nicht als süßliches Kindchengeburtsfest mit dem biologischen Kindchenschema, sondern als wahres Christusfest, als ein erwachsenes Fest. So wie Paulus seine existentielle Entdeckung nachösterlich im Galaterbrief formuliert hat: „Nicht mehr ich lebe, sondern Christus lebt in mir.“ Oder im zweiten Korintherbrief: „Wenn also jemand in Christus ist, dann ist er eine neue Schöpfung: Das Alte ist vergangen, siehe, Neues ist geworden. Aber das alles kommt von Gott, der uns durch Christus mit sich versöhnt und uns den Dienst der Versöhnung aufgetragen hat… Wir sind also Gesandte an Christi statt, und Gott ist es, der durch uns mahnt. Wir bitten an Christi statt: Lasst euch mit Gott versöhnen!“
Möglicherweise kann ein Kirchenfasten, eine zeitweilige Gottesdienst-Askese unter Corona-Bedingungen dieses Verständnis beschleunigen und das zugrundliegende eucharistische Mysterium vertiefen helfen. Dann auch hier: Mir fehlt etwas. Dieses Fehlen wird umso schmerzlicher bewusst, je mehr man es einübt und je weniger es durch liturgische Betriebsamkeit überspielt oder sonstige kirchliche Geschäftigkeit übertüncht wird. Die Unterbrechung ist heilsam. Die Leere, das spirituelle Loch sollte erlitten, nicht rasch mit Ersatz gefüllt werden. All unsere Kirchenroutine braucht dringend den Bruch: zum Aufschrecken und Aufwachen. Zur geistigen, geistlichen, aber auch strukturellen Reform.
Voller Sehnsucht
Der verstorbene Grazer Theologe und Liturgiewissenschaftler Philipp Harnoncourt hatte vor etlichen Jahren im Sinne ökumenischer Solidarität ein zeitweiliges eucharistisches Fasten vorgeschlagen. Die Gläubigen sollten auf den Empfang der Himmelsspeise und des Himmelstranks verzichten, um so den heftigen Schmerz der konfessionellen Trennung am Tisch des Herrn leibhaftig und geistig zu spüren. Nicht als Protest war das gedacht, sondern schlichtweg als sinnliche Wahrnehmung dessen, was fehlt, wenn es einem selber fehlt. Ähnlich könnte ein Weihnachtsfasten uns schmerzhaft erfahrbar machen, was uns fehlt, wenn Gott uns fehlt, wenn wir Gott tatsächlich vermissen. Womöglich kommen wir erst dann – auch kulturell – dem Gott der Offenbarung in Christus wieder näher, existentiell, voller Sehnsucht. Mein Retter und Erlöser, ich sehne mich nach Dir. Je mehr Du mir fehlst, umso mehr.
Weihnachten ohne Weihnachten. Nicht wir retten Weihnachten, Weihnachten rettet uns. Daher kann uns in der Ausnahmesituation jetzt nichts stärker treffen, heftiger erschüttern und innerlicher ergreifen als dies: Heute ist uns der Heiland geboren, Christus, der Herr!