Michel Foucault bleibt bis heute ein Garant des Medieninteresses. Dass die Begeisterung für ihn so lange anhält, hängt zunächst damit zusammen, dass sich der 1925 geborene Philosoph in den Jahren nach den Studentenunruhen als ein ausgesprochen politischer Autor präsentierte, der einige Gewissheiten der aufbegehrenden Jugend radikal infrage stellte. Zudem ist Foucaults Nachruhm in schier überbordenden Nachlass-Publikationen zu suchen, die das Leserinteresse kontinuierlich wachhielten. Zahllose Werke, Vorlesungen und Interviews haben den Buchmarkt geflutet.
Bis kurz vor seinem Tod in einer Pariser Klinik hatte Foucault an einem Werk gearbeitet, das die vierbändige Ausgabe „Sexualität und Wahrheit“ abschließen sollte. Die ersten drei Bände waren zu seinen Lebzeiten herausgekommen. Nur der vierte Band, ein Buch über „Sexualität und frühes Christentum“, konnte niemals veröffentlicht werden. Nach Jahrzehnten des Wartens ist der Band, der den Titel „Die Geständnisse des Fleisches“ trägt, nun endlich erschienen (Suhrkamp Verlag).
Auch bei Griechen strenge Moral
Der Auftaktband von „Sexualität und Wahrheit“, der 1976 erschienen war, legte das Fundament für Foucaults anhaltende Beschäftigung mit der Sexualität. Allerdings unterscheiden sich seine Erkenntnisse über die Geschichte der Sexualität grundlegend von ihrer Aufnahme durch die Jugend- und Studentengeneration, die in den siebziger Jahren das Verschweigen der Sexualität attackierte. Damals studierte man die Psychoanalyse von Sigmund Freud und verschmolz seine Ideen mit der revolutionären Theorie eines Karl Marx. Sexualität sollte befreiend wirken, sie sollte Bestandteil einer sozialen Revolution sein.
Michel Foucault interessierte sich vor allem dafür, wie die Sexualität ein Ort der Kontrolle wurde – zunächst in der Familie, dann in der Medizin und Psychiatrie, schließlich in den pädagogischen Einrichtungen. 1978 sagte Michel Foucault in einem Interview über die christliche Sexualmoral: „Die Sexualität des Kindes sollte so mächtig und erregt gemacht werden, dass jedermann gezwungen war, sich damit zu befassen. Die Mutter sollte ununterbrochen über das Kind wachen, beobachten, was es tut, was sein Verhalten ist, was nachts geschieht. Und der Vater überwachte die Familie. Um die Familie kreisten der Arzt und der Pädagoge. In allen Institutionen entstand eine Pyramide von Aufsehern, Lehrern, Direktoren und Präfekten – um den Körper des Kindes herum, um seine gefährliche Sexualität.“
In den Folgebänden warf Foucault einen Blick zurück in die Antike, um darzustellen, dass das erotische Leben der alten Griechen durchaus strengen Regeln von Mäßigung und Kontrolle folgte. Die Untersuchung spätantiken Denkens richtete sich im dritten Band auf den Umgang mit dem eigenen Körper. Das war sozusagen der Übergang zum abschließenden Band, der auf die Frage eingeht: „Wie ging das Christentum mit der Sexualität um?“
Michel Foucault verstand all seine Forschungen als entstehungsgeschichtlich, gleichgültig ob er über das Verhältnis der Gesellschaft, der Kultur zum Wahnsinn, zur Erziehung, zu Gefängnisstrafen oder zur Sexualität schrieb. Das bedeutet: Er war weniger an der Kritik an gegenwärtigen Institutionen interessiert. Stattdessen wollte er aufweisen, wie bestimmte Machtverhältnisse überhaupt erst entstehen konnten. Wenn Foucault die antiken Philosophen und Historiker, die frühchristlichen Theologen und Kirchenväter liest, möchte er die Wurzeln unseres heutigen Verständnisses von Sexualität aufdecken.
Das „Ideal“ der Mönche
Christoph Markschies, Professor für Antikes Christentum an der Berliner Humboldt-Universität, fragt sich, warum sich Foucault ausgerechnet den Texten der spätantiken Kirchenväter widmete: „Wenn man wissen will, warum sich Foucault am Ende seines Lebens mit dem Christentum beschäftigte, muss man sagen: Seine Hinwendung zur Geschichte der Sexualität brachte ihn dazu, dass für unsere heutige Einstellung zur Sexualität das Christentum eine schlechterdings zentrale Bedeutung hat. Deswegen hat er es sehr gründlich und sorgfältig analysiert.“
Dass sich Foucault in „Geständnisse des Fleisches“ ausgerechnet mit dem spätantiken Verständnis von Sexualität auseinandersetzt, erscheint Markschies folgerichtig: „Religion ist zumindest in der jüdisch-christlichen Tradition ein zentraler Faktor für die Einstellung des Individuums zur Sexualität.“ Den Wandel von einer noch heidnischen zur rigiden christlichen Sexualmoral erklärt Foucault durch ihren Einfluss, den sie im spätantiken Rom bis hin zur Verfestigung als neue Kirchenmoral ausübte. Kirchenväter wie Clemens von Alexandrien und Augustinus widmeten sich eingehend dem Eheleben, für dessen christliche Lenkung sie einen genauen Regelapparat entwarfen. Ihre Beschäftigung mit der Ehe war heikel, denn sie konnten nicht erwarten, dass sich die Ehepartner der gleichen körperlichen Selbstkontrolle wie die Mönche unterwarfen. Clemens entwickelt ein Modell sexueller Mäßigung, das er strikt vom „exzessiven Hang zur Lust“ unterscheidet, den er bei Hasen und Hyänen zu entdecken glaubte. Allerdings ist für Clemens, der im griechisch dominierten Kulturkreis von Alexandria lebte, das Maßhalten eine bereits durch die griechischen Philosophen geforderte Tugend.
Michel Foucault sieht die Zeitenwende erst durch das Mönchtum begründet: „Die antiken Autoren, die die Gewissensprüfung beschreiben, wollten noch zum gerechten Leben und zur vollständigen Gesundheit geleitet werden. Die Mönche sind von diesem Weg abgewichen: Sie setzen nicht nur durch, lediglich die begangenen Fehler, sondern alles zu gestehen, alles auszusprechen bis in die innersten Windungen der Gedanken. Der Mönch misstraut nicht allein dem Fleisch, er misstraut dem eigenen Ich.“
Mit diesem historischen Umschlag grenzte sich das Christentum klar von der heidnischen Antike ab: „Nun wird verständlich, wieso es geschehen konnte, dass sich außerhalb der Klöster das Geständnis seit dem 17. und 18. Jahrhundert zu einem Instrument der Selbstbefragung und Selbstkontrolle wandelte.“ Michel Foucault entdeckt in „Geständnisse des Fleisches“, dass das Selbstverhältnis und die Willenskontrolle, die bei den frühchristlichen Autoren aufkamen, zu neuen Praktiken in den sexuellen Beziehungen führten: Buße, Selbstbeschämung, Jungfräulichkeit sowie ständige Selbstkontrolle gehören zu den Formen einer sich herausbildenden Subjektivität. Der Philosoph berichtet von den Christen, die im dritten, vierten und fünften Jahrhundert von der Frage umgetrieben wurden: Welches Bild von mir selbst, welche Wahrheit suche ich in meiner sexuellen Begierde? Das ist das Leitthema im vierten Band von „Sexualität und Wahrheit“. Der Buchtitel „Geständnisse des Fleisches“ führt mitten hinein in die Geisteswelt des Kirchenlehrers Augustinus: Der Mensch muss seine Sünden bekennen, weil sein Fleisch schwach geworden ist. Nachdem er gegen die göttliche Ordnung revoltiert hatte, wurde er aus dem Paradies verstoßen. Seither ist der Mensch mit dem Makel der Sünde behaftet, getrieben von seinen fleischlichen Begierden und dem Wunsch, Herr über sich selbst zu sein. Augustinus geißelte Maßlosigkeit und Exzess, weil sie für die Abkehr vom geregelten Leben stehen. Ähnliches gilt für Clemens von Alexandrien. Den Christen empfahl er zur Mäßigung die folgende Lebensregel: „Über die Lüste herrschen und über den Bauch, und über das, was unter dem Bauch ist, Herr sein.“
Krisenstimmung des Augustinus
Die frühchristlichen Autoren entwarfen einen Kodex der Mäßigung, der aufzeigt, wie ein christliches Leben durch Schamgefühl, Respekt und sexuelle Zurückhaltung zu führen ist. Es ist das christliche Ideal der Sittsamkeit, das von den Mönchen vorgelebt wurde: Bußdisziplin und klösterliche Askese waren die Leitbilder. Christoph Markschies fügt an: „Schaut man auf den Untertitel des Buches, dann wird deutlich, dass Foucault etwas wunderbar und präzise beschrieben hat – Geständnisse des Fleisches. Damit ist gemeint, dass ein zentrales Element des Gottesdienstes, sowohl des Gottesdienstes der Mönche wie der Laien, das Sündenbekenntnis ist. Und wenn man an die katholische Beichte denkt, ist es mehr als die im evangelischen Christentum verbreitete rituelle Formel. Das heißt, vor dem Sakrament steht der Blick auf die eigenen Sünden und ihr öffentliches Bekenntnis.“
Am ausführlichsten hat sich Foucault mit Augustinus auseinandergesetzt, der den Menschen als Subjekt des Begehrens beschreibt, als sündiges Wesen, das von seinem sexuellen Verlangen nicht ablassen kann. Augustinus, der weitab von den theologischen Zentren Rom und Mailand in der Provinz Nordafrika lehrte, war zutiefst von der Mangel- und Sündhaftigkeit des Menschen überzeugt, den selbst der rechtliche Stand der Ehe nur wenig auszugleichen vermag. Anders Clemens, der in Alexandria lebende griechische Theologe. Er war wesentlich mehr vom hellenistischen Weltbild geprägt und glaubte, dass die christliche Ehe das beste Mittel gegen Ausschweifung und Maßlosigkeit ist. Clemens war davon überzeugt, dass die Ehepartner einer von den griechischen Philosophen geforderten Ethik des Maßes folgen sollten. Verstanden als eine Ethik, die dem Gesetz des göttlichen Logos entspricht, eines Logos, der sich in der gesamten Natur offenbart.
In der Spätphase des römischen Reichs haben die Lehrmeinungen der antiken Philosophen noch immer einen großen Einfluss. Ganz anders beim später geborenen Augustinus: „Augustinus entwickelt ein strengeres, pessimistischeres Christentum, das die menschliche Natur nur über den Sündenfall denkt und die sexuellen Beziehungen folglich mit einem negativen Vorzeichen versieht“, schreibt Michel Foucault.
Christoph Markschies legt Wert darauf, dass die christlichen Weltbilder eines Clemens und Augustinus durch die politische Entwicklung des Römischen Reichs geprägt waren. Das bedeutet: Prosperität und Dekadenz des Römischen Imperiums haben sich in den Lehrmeinungen der Kirchenväter gespiegelt: „Augustinus gehört in die Spätantike, in der die Grundfeste des Staatswesens zusammenbrechen: schwere Inflation, Überrennen der Grenzen durch andere Völkerschaften, während Clemens von Alexandrien noch in einem prosperierenden Christentum im zweiten und dritten Jahrhundert lebt, als das römische Reich viel Sicherheit ausstrahlt und das Christentum sich im Römischen Reich beheimatet fühlt. Dagegen merkt man bei Augustinus die Krisenstimmung. Die augustinische Stimmung gegen die Sexualität hat natürlich – mehr als es Foucault wahrnimmt – mit der Krise des Römischen Reichs zu tun.“
Über Jahrhunderte hinweg war der Einfluss von Augustinus bedeutend. Selbst Luther gehörte dem Augustinerorden an, bevor er die Reformation begründete. Die Bekanntheit des Augustinus ist bis in die heutige Zeit geblieben. Dennoch bleibt die Frage, ob Foucault seinen Einfluss auf die Christen seiner Zeit nicht stark überschätzte. Christoph Markschies relativiert: „Die christliche Mehrheitstheologie wird nicht von Augustinus geprägt. Sie wird von Persönlichkeiten wie Clemens von Alexandrien geprägt, der aus einer antiken Bildungsmetropole stammt. Da wollen die Christen in den Bildungseinrichtungen mitreden, die wollen unter den Philosophen sitzen. Und insofern ist es nicht überraschend, dass sie sehr viel stärker die Einstellung der Nichtchristen zur Sexualität übernehmen.“
Philosophische Ethik in Alexandria
Die Kulturmetropole Alexandria, seinerzeit Sitz der weltweit größten Bibliothek, war ein antiker Schmelztiegel: Hier kamen unterschiedliche Religionen und Ethnien zusammen. Und die hier verkündeten theologischen Lehren hatten großen Einfluss auf die frühchristlichen Gemeinden. Die waren aber weniger von Augustinus geprägt, sie verkündeten keine mönchische Askese, keine permanente Selbstkontrolle. Sie predigten keine „Geständnisse des Fleisches“, sondern wiesen die Gläubigen an, soziales Fehlverhalten zu vermeiden: nicht den falschen Zins zu geben und nicht den heidnischen Göttern zu opfern.
Der Einfluss des Augustinus und der Mönchsorden auf das Sexualverhalten der Christen seit dem Mittelalter war zweifellos groß. Aber die frühchristlichen Gemeinden hatten ganz andere Vorstellungen: „Ich glaube nicht, dass der Unterschied zwischen der klassischen griechisch-römischen Philosophie und dem Christentum so furchtbar groß ist, was die Sexualität angeht. Denn die meisten Christen hatten eine vollkommen normale Ethik aus dem Hellenismus und der frühen Kaiserzeit von ihren nichtchristlichen Kollegen übernommen. Und das war die Einstellung zur Sexualität: ‚Macht nicht zu viel! Denn zu viel ist gesundheitsschädlich. Lasst deviante Praktiken! Das ist auch gesundheitsschädlich.‘ Eine Ethik des Mittelmaßes – das war die Mehrheitsmeinung der Christen.“
Trotzdem: Es bleibt Foucaults entscheidende Einsicht, dass sich im frühen Christentum Techniken zur systematischen Selbstkontrolle der Sexualität herausbildeten. Natürlich sprach Aristoteles von den „Erschütterungen der Seele“. Aber erst die christliche Antike entwickelte Formen, um diese Erschütterungen zu beherrschen. Gegenüber den heidnischen Denktraditionen setzte sich so langsam die neue christliche Sexualmoral durch. Sie hat in den folgenden Jahrhunderten das westliche Verständnis von Sexualität tiefgreifend geprägt.