Die Amazonasregion ist die kulturgeschichtlich gewiss nicht bedeutendste Gegend der Erde. Aber sie ist – aus anderen Gründen – eine interessante. Denn auf die riesige Fläche um den wasserreichsten und, gemeinsam mit dem Nil, längsten Fluss des Globus sowie um sein Netz aus Nebenflüssen richten sich viele Begehrlichkeiten. Zuerst ökonomische. Denn hier sind – abgesehen vom Holz eines der mächtigsten Regenwälder – viele Rohstoffe verborgen. Brasilien zum Beispiel, das auf seine Fahnen „Ordnung und Fortschritt“ (Ordem e Progresso) geschrieben hat, möchte über die intensive Nutzung der Ressourcen Anschluss an den Weltwohlstand erhalten, seine Entwicklung vorantreiben, Armut bekämpfen, mit Wasserkraft und dazugehörigen Staudämmen seinen Energiehunger stillen. Die übrige Welt aber sorgt sich um die grüne Lunge, die alle mit Sauerstoff versorgt und ein Heilmittel gegen den Klimawandel wäre.
Für die katholische Kirche in einem immer weniger katholischen, ja immer mehr säkularisierten Lateinamerika ist Amazonien wiederum ein wichtiges Experimentierfeld. Vor allem, wie bei einer dünnen Besiedelung die Menschen, die selten einen Priester zu Gesicht bekommen, religiös zu erreichen, mit dem Evangelium zu ermutigen, mit den Sakramenten zu inspirieren sind. Für die Weltkirche, die auch in wohlhabenden Zonen zusehends unter Priestermangel wie Gläubigenmangel leidet, könnten amazonische Erfahrungen mit „neuen Wegen“ anregend werden.
Schließlich richtet sich der Blick vor allem von Ethnologen auf die im Regenwald verbliebenen letzten Ureinwohner, auf Eingeborenenstämme, die teilweise noch isoliert leben und, abgeschottet von der übrigen Zivilisation, ihre Traditionen pflegen. Nicht wenige stehen vor dem Aussterben. Welch unermesslicher kultureller Reichtum einer langen Evolution in der Kette der Menschheit geht da doch verloren! Und das – in religiöser Perspektive – vor Gott, der alles doch einmal ins Dasein rief und angeblich als gut befunden hat. Die religiöse Erschütterung ist gewaltig, wenn wieder einmal menschliches Hoffen und Sehnen, Schaffen und Träumen einfach ins Nichts läuft.
Von daher ist es verständlich, dass über Amazonien hinaus eine gewisse Neugier sich auf die vatikanische Bischofssynode für jene Weltgegend gerichtet hatte, die vor wenigen Monaten tagte. Und dass die soeben veröffentlichte abschließende Bewertung durch Papst Franziskus eine gewisse Spannung, ja Erwartungshaltung erzeugte. Das Dokument hat knapp fünfzig Seiten Umfang. „Geliebtes Amazonien“ – so der Titel. Die Medien haben bereits über die Eckpunkte berichtet und darüber, dass nicht wenige Wünsche, vor allem hinsichtlich einer möglichen Erleichterung bei Zugangswegen zum Priestertum, nicht erfüllt werden. Wie aber ist das Schreiben insgesamt zu bewerten? Was hat der Papst aus den bischöflichen Beratungen herausgefiltert, und was ist ihm am wichtigsten?
Urwald und Entwicklung
Der Text ist in vier Träume beziehungsweise „Visionen“ gegliedert – sozial, kulturell, ökologisch, kirchlich. Dabei wird deutlich, dass Franziskus I., befreiungstheologisch inspiriert, ohne ein ausdrücklicher Befreiungstheologe zu sein, faktisch die Forderungen früherer gesamtlateinamerikanischer Bischofsversammlungen übernimmt. Gleich im ersten Kapitel spricht er die vorrangige Option für die Armen an, beklagt Ausbeutung, Ungerechtigkeit, einen Neokolonialismus nationaler wie internationaler Unternehmen, die die betreffende Gegend ausplündern, ohne auf die Rechte der dort lebenden ursprünglichen Völker Rücksicht zu nehmen. In Variation wiederholt er seine – unter Fachleuten der sozialen Marktwirtschaft stark kritisierte – Behauptung, dass diese Wirtschaft tötet. Ja, er spricht von „Verbrechen“. Der Verfasser sieht da weiterhin „koloniale Mentalitäten“ am Werk, wobei er nicht danach fragt, welches Selbstbestimmungsrecht die große Mehrheit der brasilianischen Bevölkerung hat, die Schätze im Grund und auf dem Boden für den eigenen Fortschritt zu nutzen. Wie sind zum Beispiel die Rechte der doch eher wenigen Urwald-Eingeborenen abzuwägen mit denen der übrigen gut 200 Millionen Einwohner einer großen Nation?
Der Papst nennt Probleme der Urbevölkerung, die Zerrüttung etwa von Familien, die Entwurzelung, die Abwanderung an die Ränder der großen Städte. Zudem verlangt er gute und starke Institutionen zum Schutz des Lebens – und spricht mehrfach von einem „guten Leben“, das das Ziel irdischer Bemühungen für die Heutigen und die Nachkommen sein solle. Unter anderem wird die grassierende Korruption beklagt, ebenfalls, dass Mitglieder der Kirche selber „Teil des Korruptionsnetzes“ waren (oder noch sind?).
In seiner kulturellen Vision entwirft der Papst ein teilweise romantisierendes Bild von gestern, von den Überlieferungen und Werten. Er lobt die Vielfalt, in der verschiedenste Gruppen im Amazonas zusammenleben: Fischervölker und Jagdvölker, Bauern oder Siedler in Überschwemmungsgebieten, eine indianische und eine afrikanischstämmige Bevölkerung, Flussanwohner und Stadtbewohner. Vor allem die jungen Leute lädt der Papst ein, die Wurzeln der eigenen Identität zu achten, die Weisheit, Mythen, Legenden und Erzählungen zu bewahren, die Geschichten, die seit Urzeiten von Erzählern durch die Wälder und von Dorf zu Dorf getragen wurden.
Fluss-Poesie
Mit vielen Anleihen an seiner Umweltenzyklika beschreibt der Papst dann seine ökologische Vision und wird da geradezu poetisch, indem er zum Beispiel Verse des chilenischen Dichters Pablo Neruda zitiert: „Amazonas, Hauptstadt der Silben des Wassers, Vater, Patriarch, du bist die geheime Ewigkeit der Befruchtung, Flüsse steigen zu dir hinab wie Vögel.“ Franziskus I. wünscht sich eine Ökologie der Kontemplation, die tiefer in das Mysterium der Schöpfung eintaucht: „Wenn wir von den ursprünglichen Völkern lernen, können wir Amazonien betrachten und nicht nur analysieren, um das wertvolle Geheimnis zu erkennen, das uns übersteigt. Wir können es lieben und nicht nur benutzen, so dass die Liebe ein tiefes und aufrichtiges Interesse weckt. Noch mehr, wir können uns mit ihm innig verbunden fühlen und es nicht nur verteidigen: Amazonien wird zu uns gehören wie eine Mutter.“
Der für hiesige Verhältnisse naheliegendste und mit höchsten Erwartungen im Vorfeld befrachtete Punkt ist, was der Papst als „kirchliche Vision“ kennzeichnet. An erster Stelle steht die Evangelisierung, genauer: die Menschenfreundlichkeit, mit der die Bewohner Amazoniens zu Christus als dem Befreier eingeladen werden sollen. Mit einem Hauch Dogmen- und Moralkritik sagt Franziskus I. gleich, dass dies nicht nur mit einer „Sammlung von Lehrsätzen“ oder ethischen Weisungen geschehen dürfe. Auch solle man sich nicht mit sozialen Botschaften zufriedengeben. Vielmehr müsse es so geschehen, dass man sich für die Menschen mit dem eigenen Leben einsetze, für deren Gerechtigkeit und Würde, „weil wir in ihnen Christus erkennen und weil uns bewusst geworden ist, welch große Würde Gott, der Vater, der sie unendlich liebt, ihnen verleiht“. Ohne den christlichen Bezug wäre die Kirche nichts anderes als eine weitere Nichtregierungs-Organisation.
Volksfromme Mythen
Dann breitet sich der Papst über die Notwendigkeit einer Inkulturation des Christentums aus, ohne allerdings konkret zu werden. Ein bisschen Panentheismus zieht durch den Text, wo es über den Sohn Gottes heißt: „Er ist herrlich und geheimnisvoll gegenwärtig im Fluss, in den Bäumen, in den Fischen, im Wind.“ Ein Missionar Bonifatius, der laut Erzählung die Donareiche fällte, hätte das gewiss nicht gesagt. Er wurde von den heidnischen Friesen umgebracht. Allerdings zieht Franziskus die Linie weiter, indem er vom „Herrn über die Schöpfung“ sagt, dass er in der Eucharistie „die Elemente der Welt“ angenommen hat und „allem den Sinn einer österlichen Gabe“ verleiht.
Die Absicht von Franziskus I. ist klar: Er möchte nicht, dass traditionelle Frömmigkeitsformen der eingeborenen indianischen Völker als „Aberglaube oder Heidentum“ verworfen werden. Vielmehr sei in der Volksfrömmigkeit der Weizen inmitten des Unkrauts zu erkennen. „Ein Mythos von spirituellem Sinngehalt kann aufgegriffen und muss nicht immer als heidnischer Irrtum angesehen werden.“
Wie weit allerdings eine Inkulturation, die faktisch archaische, magische Denkwelten aufnimmt, in eine moderne, aufgeklärte Kultur auch Lateinamerikas hineinführen kann, weckt doch Fragen und Zweifel. Kritische afrikanische Theologen hatten bereits vor Jahrzehnten hinsichtlich ihres eigenen Kontextes gesagt, dass „der Busch niederbrennt“. Eine Inkulturation, die letzten Endes in Vergehendem das Christentum einbetten möchte, habe keine Zukunft.
Immerhin bemerkt der Papst, es sei notwendig, „aus einer inkulturierten Spiritualität heraus“ eine Antwort auf Ausdrucksweisen zu finden, „die manchmal unvollkommen und bruchstückhaft sind“. Eine, wie manche wünschten, amazonische Liturgie schlägt der Papst nicht vor. Er spricht nur davon, in der Liturgie könne man „viele Elemente der intensiven Naturerfahrung der Indigenen“ aufgreifen und „eigene Ausdrucksformen in den Liedern, Tänzen, Riten, Gesten und Symbolen“ anregen.
Zölibat – kein Thema
Bei der Frage des Priestertums klammert Franziskus I. völlig die Zölibatsthematik aus, wohingegen viele gehofft hatten, dass er wenigstens in einer Fußnote andeutet, unter gewissen Bedingungen eventuell „bewährte verheiratete Männer“ zum geistlichen Amt zuzulassen. Das hatte sich eine Mehrheit der Amazonas-Bischöfe gewünscht und dabei in einem ersten Schritt an Ständige Diakone gedacht, die die Priesterweihe erhalten sollten. Der Papst nimmt Zuflucht zu der traditionellen strikten Abgrenzung von Tätigkeiten, die allein dem besonderen Priestertum zustehen und nicht delegierbar sind. Auf die Not des Priestermangels antwortet er faktisch nicht, sondern weicht mit vagen Appellen aus: Die seelsorglichen Probleme dürften natürlich niemanden gleichgültig lassen und erforderten „eine diesen Umständen entsprechende mutige Antwort“. Welche? Oder: „Es ist notwendig, dass der kirchliche Dienst so gestaltet wird, dass er einer größeren Häufigkeit der Eucharistiefeier dient.“ Wie? Schließlich: Im Regenwald, in abgelegenen Gebieten „muss ein Weg gefunden werden, um diesen priesterlichen Dienst zu gewährleisten“. Welcher? Papst Franziskus entzieht sich seiner ureigenen Entscheidungsvollmacht. Er rettet sich auf einen Wunsch hinaus: Die Bischöfe sollten neben dem Gebet um Priesterberufungen mehr Leute dazu bewegen, sich für einen Einsatz im Amazonasgebiet zu entscheiden.
Nebenbei räumt das Dokument ein, dass es auch im Amazonasgebiet nicht sehr viele Ständige Diakone gibt, die, so möchte es Franziskus I., „Verantwortung für das Wachstum der Gemeinschaften übernehmen“ sollten.
Laien sollen es richten
Ansonsten wird an die Laien appelliert, seelsorgliche Dienste zu übernehmen, „neues Leben in den Gemeinden zu wecken. Bewährte Familienväter – viri probati – ja (der Begriff fällt nicht), aber nicht fürs Priestertum, sondern als „Laien-Gemeindeleiter“. Faktisch läuft die Perspektive dieses Dokuments und damit von Papst Franziskus – jedenfalls am Amazonas – auf ein katholisches Freikirchentum hinaus.
Auch Frauen sollen dabei natürlich mithelfen, und der Papst lobt sehr diejenigen, die bereits in der Vergangenheit viel für den christlichen Glauben missionarisch geleistet haben. Aber ein Frauenpriestertum lehnt er klar ab, verbrämt mit der Formulierung: Ein solches „wäre in Wirklichkeit eine Begrenzung der Perspektiven: Sie würde uns auf eine Klerikalisierung der Frauen hinlenken und den großen Wert dessen, was sie schon gegeben haben, schmälern als auch auf subtile Weise zu einer Verarmung ihres unverzichtbaren Beitrags führen.“
Ist der Papst, auf den sich einmal so viele Reformhoffnungen richteten, doch in einer Sackgasse angekommen? Und auch wenn viele bischöfliche und weitere kirchliche Interpreten jetzt versuchen, sein Amazonas-Dokument schönzureden: Die riesige Enttäuschung vieler lässt sich nicht übersehen. Papst Franziskus traut sich nicht, einen eigentlich bloß kleinen Reformschritt zu wagen. Er hat offenbar doch derart extrem Widerstand von vielen Seiten, dass er wie eingeschüchtert wirkt – spätestens seit der scharfen Kritik an seinem Dokument über die Familiensynoden, in dem er in einer winzigen Fußnote andeutete, dass unter gewissen, sehr begrenzten Bedingungen wieder verheiratete Geschiedene zur Kommunion zugelassen werden könnten. Alles in allem ist das Amazonas-Dokument ein schwacher Text, vage, blass, verlegen, unkonkret und unverbindlich – mit ansonsten bekannten allgemeinen Forderungen. Papst Franziskus hat die Chance zu einer auch nur winzigen Reform verspielt. Ist von diesem Pontifikat noch Innovatives zu erwarten? Es fällt schwer, das zu meinen.