Reimer Gronemeyer über "Tugend"Konkret und schlicht

Tugend ist ein schillernder Begriff. Da ist dieser noble Klang, der einen an den Griechisch- und Lateinunterricht denken lässt. Man erinnert sich vielleicht an die antiken Philosophen und die vier platonischen Kardinaltugenden: Klugheit, Tapferkeit, Gerechtigkeit und Mäßigung. Das sind nicht nur Worte, sondern Monumente des Guten und des Schönen. Aber kommen die klassischen Tugenden heute nicht verstaubt, ja vielleicht sogar naiv daher? Immerhin hat sich unsere Lebensrealität radikal verändert. Die Menschen des 21. Jahrhunderts leben gewissermaßen auf Inseln, jeder auf seiner eigenen, und jeder muss sich behaupten und durchkämpfen.

Diese Diagnose teilt auch Reimer Gronemeyer. Der Theologe und Professor für Soziologie hat bereits über das Älterwerden und die Generationenfrage geschrieben. Zudem sind ihm Afrika und die ganze Dramatik von Armut und Perspektivlosigkeit dieses Kontinents unmittelbar vertraut. In seinem Buch begründet Gronemeyer zunächst facettenreich, warum er die Menschheitsgemeinschaft gefährdet sieht. „Die Planung des gesellschaftlichen Zusammenhangs gerät in die Hände von Kohäsionsmanagern“, formuliert er markig. Aber rein technisch-funktional, gesteuert durch Behörden, lasse sich sozialer Zusammenhalt kaum erzwingen. Doch auch die zwischenmenschliche Gemeinschaft schwinde, fürchtet Gronemeyer. Aber damit nicht genug: Unsere rastlose Ausbeutung der Schöpfung führe zu einer Welt, die leer an Lebendigem und zugleich voller Konsumgüter sei.

Wenn Gronemeyer sich um die Zukunft sorgt, ist das kein billiger Kulturpessimismus. Dafür liefert er zu viele, zu konkrete Beispiele drohender Verwüstung: vom Ausbleiben des Vogelgesangs in der eigenen Heimat bis hin zu den katastrophalen Folgen der Globalisierung für Menschen, die in Afrika und Asien unsere Produkte herstellen.

Tugenden braucht es also dringender denn je, ist Gronemeyer sicher, sie müssen nur verständlich und lebbar sein. Gefragt ist ein „Aggiornamento“, und dafür besinnt der Autor sich auf die ureigenste Intention allen tugendhaften Verhaltens – das Glück des Menschen und das Streben nach echter Gemeinschaft. „Doch die neuen Tugenden, das sind keine fremden Setzungen, sondern Ereignisse zwischen Personen. Sie entstehen in der Begegnung mit dem anderen, ob er schwarz ist oder weiß, Christ oder Muslim, Mann oder Frau.“ Gronemeyer empfiehlt, die „neuen Tugenden“ daran zu messen, ob sie solche Ereignisse vom Du zum Du ermöglichen, ja fördern. Zu seinem Tugendkatalog für unsere Zeit gehören etwa Empathie, Sanftmut, Gelassenheit und Selbstbegrenzung.

Wer in diesem Buch philosophische Abhandlungen über einen abstrakten Tugendbegriff erwartet hat, mag das unspektakulär, beinahe trivial finden. Im Kern sagt der Autor angesichts der Krisen unserer Zeit: „Hört einander zu, seid bescheiden, seid gut zueinander!“ So schlicht und konkret sind seine Mahnungen, dass er ohne den erhobenen Zeigefinger auskommt. Die Lektüre motiviert, sich in einer bisweilen apokalyptisch gestimmten und undurchschaubaren Welt auf das Naheliegende, das real Mögliche zum Gut-Sein zu besinnen.

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Gronemeyer, Reimer

TugendÜber das, was uns Halt gibt

Edition Körber, Hamburg 2019, 216 S., 19,00 €

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