Eugen DrewermannWider den kirchlichen Selbsterhaltungsapparat

In Form eines Interviews legt der Theologe und Psychoanalytiker Eugen Drewermann dar, wie er sich ein von Jesus inspiriertes und von der Kirche nicht länger blockiertes Christentum vorstellt.

In 31 thematischen Anläufen beschreibt Eugen Drewermann, wie einen Menschen die tiefen persönlichen Fragen prophetengleich herausfordern und wie sehr es einer Kirche bedarf, die die Botschaft Jesu auf die existentiellen Sorgen der Menschen hin zu konkretisieren weiß: „Wir machen dieses Buch, weil mir an den Menschen liegt, die von der Kirche daran gehindert werden, im Sinne Jesu zu Gott zu kommen.“

Alle Einzelkapitel gehen ausdrücklich oder indirekt von der Person Jesu aus, dessen Anliegen Drewermann darin sieht, dass er alle Menschen zu ihrer Individualität befreit. So lautet eine unmittelbar auf Jesus bezogene Überschrift: „In Deine Hände gebe ich mich selber. Das Vertrauen Jesu in Gott“. Mit Blick auf eine Frau in der unmittelbaren Jesus-Nachfolge akzentuiert er: „An der Seite Jesu zu sich selber zurückgekehrt. Maria von Magdala“. Das Individuum gilt Drewermann als Adressat von Jesu Botschaft: „Der Einzelne ist die Kategorie des Christlichen. Ämter, Strukturen, Dienste in der Kirche“. Im Sinne eines Maßstabes für die kirchliche Hierarchie formuliert er: „Kein Mensch hat eine Verfügungsgewalt mehr über den anderen. Jesus und die Macht“. Angeschärft institutionenkritisch titelt er: „Die Kirche hat einen Auftrag für die Welt und nicht für die Erhaltung des Systems. Anpassung und Widerstand“.

Gern folgt man Drewermann, wenn er darauf dringt, dass die Verkündigung der Jesus-Botschaft dem Einzelnen einen existentiellen Gewinn bescheren soll. Diesem Ziel hat sich auch die jeweilige Gestalt der Kirche unterzuordnen: „Es ist dringend notwendig, den gesamten Dogmenapparat der Kirche auf Existenzerfahrungen zurückzuführen.“ Oder: „In den Herzen ereignet sich die Wahrheit, nicht in dogmatischen Behauptungen.“ Gleichermaßen mag man ihm zustimmen, dass es in der Kirche von heute bisweilen an einer alltagskonkreten Auslegung biblischer Texte in Wort und Tat mangelt: „Die Konkretion fehlt. Das pure Da-Sein. Ganz. Nicht nur mit schönen Worten und wohlfeilen Sprechblasen.“ Und womöglich fallen manchem Gläubigen entsprechende Gesichter ein, die Drewermanns Hauptkritik an der Kirche veranschaulichen könnten: „Die obrigkeitliche Apparatur dient nur der Selbsterhaltung. Sie will bis in die Herzen hinein herrschen. Ja, sie wagt, diese Papageienfrömmigkeit der fertigen Redensarten mit Glauben gleichzusetzen.“

So gern man manche biblisch fundierte Kernaussage teilen mag, bleibt insgesamt doch ein großes „Aber“. So ist es beinahe unerträglich, wie selbstgerecht Drewermann daherkommt, wenn er – meist ohne weitere Differenzierungen – die Geschichte von Christentum und Kirche ebenso pauschal verurteilt wie ihre Gegenwart. So heißt es etwa: „Die mittelalterliche Kirchengeschichte ist eine einzige Horrorveranstaltung.“ Es erstaunt, dass sich Drewermann nicht einmal mehr an Frömmigkeitsströmungen wie der (Frauen-)Mystik interessiert zeigt, die doch seine eigentliche These aufs Beste unterstützen könnte. Im Blick auf die Reise von Papst Franziskus nach Lampedusa hält Drewermann fest, sie sei „ohne wirkliches Ergebnis“ geblieben: „Es ist seinen Katholiken offenbar weitgehend egal, was da passiert.“ Fassungslos fragt man sich, wie eine derartige Aburteilung mit der Flüchtlingsarbeit so vieler Christen und Nichtchristen zusammenpasst. Zudem verdanken wir den Sozialwissenschaften die Erkenntnis, dass noch nie so viele Ehrenamtliche auch zugunsten Armer in unserem Land aktiv gewesen sind wie gegenwärtig.

Geradezu verstörend wirken Drewermanns Ausführungen zur sexuellen Gewalt in der Kirche. Wörtlich heißt es: „Die Nulltoleranz, die die Kirche jetzt an den Tag legt, ist erneut ein rechthaberischer Schachzug. Ohne Zweifel besteht das Recht, dass Kinder nicht in die Hände von Sittenstrolchen fallen.“ Während diese knappe Bemerkung die einzige bleibt, die sich im weitesten Sinne noch auf die Opfer beziehen lässt, unterstreicht Drewermann mit Blick auf die Kirche und die priesterlichen Täter weiter: „Wir haben inzwischen Gemeinden, wo die Predigt über Vergebung [gegenüber Priestern, die jungen Menschen sexuelle Gewalt angetan haben; d. Red.] beantwortet wird, wie in Münster kürzlich, mit dem Exodus eines Teils der Gemeinde, der sich weigert, sich das anzuhören. Und wir haben keinen Ortsordinarius, keinen Bischof, der gesagt hätte: Ihr, die ihr hier sitzt, habt kein Recht zu verurteilen. Auch keinen gefallenen Priester. Er ist ein armer Mensch, ein ‚armes Schwein‘ vielleicht in eurer Sprache, das aber Sehnsucht nach Vergebung hat. Und die kam Jesus uns zu bringen.“

Es ist schade, dass das Buch neben den hellen und geistlich perspektivreichen Passagen zu Jesu Leben und Kernanliegen so viele Abschnitte bietet, die verurteilen und in ihrer pauschalen Kirchen- und Gesellschaftskritik nicht überzeugen. Geradezu erschütternd für einen Tiefenpsychologen mit enormer Erfahrung wirkt seine Sicht auf die sexuelle Gewalt in der Kirche und wie mit ihr umzugehen ist. Hier – so meint der Rezensent entschieden – sollten die Opfer das letzte Wort haben. Eben das verwehrt Drewermann ihnen. „Für eine Kirche, die Jesus nicht verrät“, steht eine solche Sicht wohl kaum, denn Jesus zeigt sich immer wieder leidsensibel – und zwar vor allem hinsichtlich der Opfer. Die aber scheint Drewermann erstrangig in den kirchlich (falsch) erzogenen priesterlichen Missbrauchstätern zu sehen und nicht in den Kindern und Jugendlichen, die sexuelle Gewalt durch Geistliche erlitten haben.

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Drewermann, Eugen im Gespräch mit Michael Albus

Die Stunde des Jeremia Für eine Kirche, die Jesus nicht verrät

Patmos Verlag, Ostfildern 2020, 200 S., 20 €

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