Dieser Vorgang ist kommunikationstechnisch der GAU, der größte anzunehmende Unfall. Gerade hatte sich die Caritas angeschickt, beim Thema „Pflege“ noch mehr in die Vollen zu gehen. Dem freundlichen Applaus vor den Heimen und Krankenhäusern während der ersten Corona-Welle sollten Taten folgen. Sprich: Die Beschäftigten in der Pflege – und zwar alle Beschäftigten, gerade auch die bei privaten Trägern – sollten endlich bessere Arbeitsbedingungen und mehr Geld bekommen. Genau das steht im Mittelpunkt der aktuellen Caritas-Kampagne. Sie soll im Superwahljahr die Politik zum Handeln bewegen.
Der kairós schien da, die Gelegenheit günstig. Denn eine repräsentative Umfrage, mit der die Caritas ihren Vorstoß unterfüttert hat, zeigt eine aktuell große gesellschaftliche Unterstützung für dieses Anliegen. Die Mehrheit der Befragten erklärte, Verbesserungen für Pflegekräfte seien derzeit das wichtigste politische Handlungsfeld überhaupt, noch vor dem Klimaschutz. „Die Corona-Pandemie hat die Bedeutung der sozialen Arbeit in den Fokus gerückt“, sagt Caritas-Präsident Peter Neher. „Wir müssen uns als Gesellschaft fragen: Welche Pflege wollen wir? Wer soll das machen und unter welchen Bedingungen?“
Doch wenige Wochen nach Start der Kampagne ist die Wahrnehmung der breiten Öffentlichkeit eine grundlegend andere. Eine einzige Sitzung, eine einzige Entscheidung haben dazu geführt, dass die Caritas nun nicht mehr als Anwältin der Pflegekräfte gilt – sondern als deren vermeintliche Verräterin dasteht. Oder zumindest als schlimmes Beispiel für Doppelmoral: Nächstenliebe predigen, aber dann nur auf den eigenen Vorteil aus sein. Die besagte Sitzung fand am Donnerstag vergangener Woche statt. Dabei wies die Arbeitsrechtliche Kommission der Caritas den Vorschlag für einen bundesweiten Tarifvertrag in der Altenpflege zurück.
Kaum war der Beschluss in der Welt, schlugen die Wellen hoch. „Schadet dies dem Ansehen der Kirche?“, wollten Journalisten von Bischof Georg Bätzing wissen, dem Vorsitzenden der Bischofskonferenz. Da war schon zu spüren, dass hier ein „großes Ding“ hochkocht. Bätzing bat um Zeit für eine Stellungnahme. Er müsse das erstmal studieren und die Folgen bedenken, war seine Antwort bei der Abschlusspressekonferenz der Vollversammlung der Bischöfe. Doch Zeit und überhaupt den differenzierenden Blick auf einen solch komplexen Sachverhalt kann man heute offensichtlich nicht mehr erwarten. Die Schlagzeilen waren schon geschrieben. Sie waren vernichtend.
Noch schlimmer geht es in den sozialen Netzwerken zu, wo seither auf Kirche und Caritas eingedroschen wird. Dabei stellen die wütenden Nutzer die absurdesten Zusammenhänge her, sogar zu den Fällen sexueller Gewalt im Raum der Kirche – ein Thema, das zweifellos abscheulich ist, aber hier nun definitiv keine Rolle spielt. Es sei nicht fair, „alles mit allem zu vermischen“, ließ Peter Neher zu Recht erklären. Und fast ein wenig flehentlich fügte er hinzu: „Gerade als Priester darf ich das sagen: Lassen Sie bitte die Kirche im Dorf.“ Der Freiburger Diözesan-Caritasdirektor Thomas Herkert schrieb auf Facebook: „Der Shitstorm, der gerade tobt, ist fast unerträglich. Vor allem, weil die Infos nicht zur Kenntnis genommen werden.“
Aber was gibt es denn da überhaupt noch zur Kenntnis zu nehmen, differenziert zu betrachten? Ist der Fall nicht sonnenklar? Zwei Tarifparteien hatten einen ausverhandelter Tarifvertrag vorgelegt, der einigen Pflegekräften mehr Geld gebracht hätte. Um ihn in Kraft treten zu lassen, wäre ein positives Votum von Caritas – und übrigens auch der evangelischen Seite, also der Diakonie – notwendig. Sie sind mit Abstand die größten Arbeitgeber in diesem Bereich und müssen deshalb der Allgemeingültigkeit eines Tarifvertrags für die Branche zustimmen. Die Caritas hat das nicht getan und damit das Ganze zu Fall gebracht. Noch Fragen?
Tatsächlich ist es, wie so oft, auch in diesem Fall nicht ganz so einfach. Zunächst stimmt es ja: Hätte die Caritas den Tarifvertrag durchgewunken, hätten etliche Beschäftigte privater Anbieter mehr Geld aufs Konto bekommen. Dass man öffentlich in extrem schlechtem Licht dastehen würde, wenn man sich dem verweigert, war den Verantwortlichen zweifelsohne bewusst. Dass sie trotzdem so entschieden haben, zeigt, dass da noch weitaus mehr hineinspielen muss.
Es ist wie beim Fadenziehen, diesem immer noch beliebten Spiel auf nostalgischen Jahrmärkten. Man zupft an einer Schnur, in der Hoffnung, genau an dieser oder jener Stelle etwas zu bewegen. Doch die Laufwege der Fäden sind so verstrickt und verschlungen, dass sich, wenn überhaupt, nur ganz woanders etwas tut. In diesem Fall hätte das Szenario wie folgt aussehen können: Bei einem „Ja“ der Caritas wäre der Mindestlohn für die vergleichsweise wenigen Pflegekräfte privater Träger gestiegen. Sie hätten mehr erhalten. Dagegen ist ja nichts zu sagen. Aber zugleich hätte genau das für die Beschäftigten der Caritas – das sind fast zehn Mal mehr – Unsicherheit gebracht. Warum? Bei der Caritas verdient man deutlich mehr, hat eine bessere Altersversorgung als anderswo. Doch weil die Kostenträger, also die Krankenkassen und Kommunen, immer so wenig wie möglich zahlen wollen, hätten sie sich wohl auch hier am unteren Niveau orientiert. Mit einem Tarifvertrag hätten sie dafür ein wirksames Instrument in der Hand. Die Folge: Die Caritas bliebe auf ihren höheren Personalkosten sitzen, was betriebswirtschaftlich betrachtet nicht lange gutgeht. Oder aber sie spart Personal ein oder erhöht die Mehrkosten für die Pflegebedürftigen. Keine dieser Alternativen kann man wirklich befürworten.
Noch Weiteres muss man bedenken. Einer der Vertragspartner beim ausgehandelten Tarifvertrag ist die Gewerkschaft Verdi. Die hat mit Sicherheit die Interessen ihrer Mitglieder im Blick, aber sie läuft auch seit langem Sturm gegen den sogenannten Dritten Weg. Damit ist das spezielle Arbeitsrecht gemeint, bei dem Dienstgeber und Dienstnehmer (so heißen die Parteien im Raum der Kirche) in gemeinsamen Kommissionen, unabhängig vom Tarifrecht, die Arbeitsvertragsrichtlinien aushandeln. Das würde Verdi gerne aufbrechen. Von daher scheint der Gewerkschaft der aktuelle Konflikt nicht ganz ungelegen zu kommen. Die kirchlichen Verbände wiederum wollen unter allen Umständen am Dritten Weg festhalten. „Wir haben damit das modernste System“, erläutert Norbert Altmann, Vertreter der Dienstgeber-Seite der Caritas. „Der Dritte Weg setzt konsequent auf Dialog statt auf Konfrontation – auf sachorientierten Ausgleich auf Augenhöhe, im Sinne des gemeinsamen Ganzen … Es wäre sicher kein Fortschritt, falls dieses gut eingespielte System durch ein neues Verfahren allgemeinverbindlicher Tarifvorschriften in seiner Funktionsweise gestört würde.“
Auch eine ökumenische Enttäuschung sei an dieser Stelle vermerkt. Wie gesagt, wäre für die Annahme des flächendeckenden Tarifvertrags auch die Zustimmung der evangelischen Seite nötig gewesen. Die Diakonie tagte ganz „zufällig“ einen Tag nach dem katholischen Partner – und hat den Punkt von der Tagesordnung genommen. Da hätte man sich auch ein anderes partnerschaftlich-solidarische Vorgehen gewünscht.
Was bleibt unterm Strich, jenseits des Imageschadens? Caritas-Präsident Peter Neher lässt zwischen den Zeilen durchblicken, dass er sich – gerade angesichts der Außenwirkung – eine andere Entscheidung der Arbeitsrechtlichen Kommission gewünscht hätte. Doch das Gremium entscheidet unabhängig. Das habe sich bewährt, das müsse und werde auch er als Präsident respektieren.
Vielleicht kann es jetzt nur darum gehen, den Gegenwind auszuhalten und weiterzumachen. Das heißt: auf eine umfassende, nachhaltige Pflegereform zu dringen, bei der nicht nur punktuelle Verbesserungen in den Blick kommen, sondern das Thema insgesamt angepackt wird. Bundesgesundheitsminister Jens Spahn, derzeit unter anderem wegen der schleppenden Impfungen unter Druck, hatte die Pflegereform eigentlich noch für diese Legislaturperiode angekündigt. Das ist weiterhin möglich. Über Pflege wird immer noch und mehr denn je gesprochen – auch wenn man es sich anders vorgestellt hätte.