In der Welt, aber nicht von der Welt.“ So lautet die klassische Formel, die dem Johannesevangelium entlehnt ist, wenn Christen über ihr Verhältnis zur „Welt“ nachdenken. Sie war immer wieder ein Motiv für neue Wege, die Christen gegangen sind, wenn sie den Eindruck gewonnen hatten, dass die natürliche Spannung nachließ und die Wirksamkeit der christlichen Botschaft hinter ihren Möglichkeiten blieb. Sie ist ein Auslöser für Berufungsgeschichten und für die Gründung von Orden und geistlichen Bewegungen. Die Patroninnen und Patrone Europas – Benedikt von Nursia, Kyrill und Method, Katherina von Siena, Birgitta von Schweden, Edith Stein – stehen dafür ebenso wie Martin von Tours, Franz und Klara von Assisi oder Teresa von Ávila. Sie haben diese Spannung gespürt und daraus Veränderungen abgeleitet, die kulturell und spirituell bis in die Gegenwart prägend waren. Das ist eine überaus taugliche Frage auch heute. Sie führt jedenfalls zu mehr Kreativität als die ständig kursierende Frage: Wie viele Mitglieder haben die Kirchen in zehn, 20 oder gar 30 Jahren?
Zur Perspektive des Christentums gehörte von Anfang an die Vielfalt. Papst Franziskus hat es so gesagt: „Die Kirche hat am Pfingsttag begonnen. An diesem Tag hat sie sich für kulturelle Vielfalt entschieden.“ Dieser Satz steht – wie mancher Satz des Papstes – recht unbemerkt im Raum. Er gibt einen Hinweis auf die Fähigkeit der Weltkirche zur Inkulturation. Die Präsenz der Kirche und des Christentums ist in dem Maße möglich, wie es ihr gelingt, den Menschen von heute und in Zukunft die Pfingsterfahrung zu verkörpern und zu vermitteln.
Vielfalt ist keine Gefahr; sie gehört zur DNA der Kirche. Sie hilft auch, das bislang unentdeckte Potenzial der Weltkirche zu entdecken. Ja, mehr noch: Die Weltkirche kann in der globalen Welt zum Modell dafür werden, wie der Respekt vor kultureller Vielfalt gelebt werden kann. Es gibt jenseits der Weltkirche als Zeugin des Christentums keine Kraft oder Institution, die seit so langer Zeit global wirkt. Darin liegt gerade jetzt – in dieser Zeitenwende – eine große Chance, weil zwar viele Reden über Solidarität gehalten werden, die Neigung zu einem neuen Nationalismus aber weltweit auch wie ein Virus wirkt.
Aus: Annette Schavan, „geistesgegenwärtig sein. Anspruch des Christentums“, © Patmos Verlag, Ostfildern 2021