Aus: Annette Schavan, „geistesgegenwärtig sein. Anspruch des Christentums“Fastenzeit mit Annette Schavan

Die einzige nachhaltige Quelle für Autorität ist letztlich Vertrauen.

Die katholische Soziallehre ist eine Lehrmeisterin der Politik. Das war besonders deutlich, als die Bundesrepublik gegründet wurde. Den Müttern und Vätern des Grundgesetzes war es ein zentrales Anliegen, in die Verfassung des jungen Gemeinwesens geistige Kräfte und Ideen aufzunehmen, die dem Totalitären keine neue Chance geben würden. Der staatlichen Macht sollten Grenzen gesetzt werden. Das war die Geburtsstunde des Föderalismus und solcher Prinzipien für den Aufbau der Gesellschaft, die der Freiheit Raum geben und Verantwortung stärken. Das Subsidiaritätsprinzip wurde zu einem Motor gesellschaftlicher, sozialer und kultureller Entwicklung. Es verankerte die Partizipation freier Träger im öffentlichen Bewusstsein; es wurde konstitutiv für die Beziehung des Staates zu den freien Trägern; es ermöglichte Pluralität bei den gestaltenden Kräften der Gesellschaft. Das Prinzip der Subsidiarität kann heute mehr denn je als ein Schlüssel für die Ordnung moderner und vielfältiger Gesellschaften bezeichnet werden. Es stärkt deren Resilienz. Es macht auch heute Gemeinwesen weniger anfällig für Versuche der Vereinnahmung durch Ideologien und Zynismen.

Dieser Schlüssel zur Resilienz ist auch für die Kirchen wünschenswert. Das erfordert eine gänzlich andere Debatte als die, die wir in Deutschland und anderswo gerade erleben. Subsidiarität bedeutet heute zum Beispiel die Wiederentdeckung der Hauskirche als kleine Einheit und zugleich eine Art Nukleus christlichen Lebens in der Moderne. Das kann verbunden werden mit einer Betrachtung dessen, was nun wirklich am Anfang war. Wer manche Debatte über die Zukunft beobachtet, gewinnt den Eindruck, dass zentrale Entscheidungen zu Ordnung und Disziplin in der katholischen Kirche seit den ersten Tagen des Christentums gelten. Am Anfang stand aber ein eher konzentrierter missionarischer Aufbruch, der nicht auf einem ausgefeilten Regelwerk, sondern auf der Überzeugungskraft der ersten Christen basierte. Autorität war begründet in dem Vertrauen, welches sie durch ihr Handeln gewonnen haben. Die einzige nachhaltige Quelle für Autorität ist letztlich genau dieses Vertrauen. Das ist in der Politik nicht anders. Ein Amt, auch das Weiheamt, kann verstärkend wirken, mehr nicht.

Aus: Annette Schavan, „geistesgegenwärtig sein. Anspruch des Christentums“, © Patmos Verlag, Ostfildern 2021

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