Die JHWH-Religion durchlebte immer wieder Phasen der Krise. Viele Erzählungen des Alten Testaments veranschaulichen und verdichten derartige Erfahrungen. Sie arbeiten mit dem Stilmittel der Zuspitzung, der Veranschaulichung, der Personalisierung. Diese Merkmale prägen auch die bekannte Erzählung vom Gottesurteil auf dem Karmel; die Geschichte im ersten Buch der Könige (Kap. 17) ist legendarisch überformt. Das heißt aber nicht, dass sie eine reine Erfindung späterer Jahrhunderte wäre. Vieles spricht dafür, dass der JHWH-Glaube im 9. und 8. Jahrhundert vor Christus vor allem im Nordreich in einen krisenhaften Klärungsprozess eintrat. Dabei ging es um die Frage, wie das Verhältnis zwischen JHWH und dem Gott Baal zu bestimmen sei.
Um den Konflikt theologisch zu verstehen, müssen wir uns daran erinnern, dass die Erfahrungen, die mit JHWH in Verbindung gebracht wurden, ursprünglich nichts mit dem Regen und der Gabe der Fruchtbarkeit zu tun haben. Die ältesten Erfahrungen mit JHWH waren solche der Rettung aus Feindesnot. Nun besteht das Leben nicht nur aus Feinden und Kriegen. Auch eine Dürre kann zum Feind werden und viele Menschenleben dahinraffen. Wer kann ihr Einhalt gebieten?
Im Polytheismus sind die Götter für unterschiedliche Bereiche der Wirklichkeit zuständig. Baal war der Gott des Wetters, des Regens und der Fruchtbarkeit. Wenn der Ackerbau zu den prägenden Elementen der Lebenswelt Israels im 9. Jh. gehörte und für das Überleben der Menschen unabdingbar war, dürfte sich für viele Israeliten die Frage gestellt haben, ob man in diesem lebenswichtigen Bereich nicht auf die bewährten religiösen Traditionen des Landes zurückgreifen sollte. Für den Regen und die Fruchtbarkeit der Felder scheint JHWH nicht zuständig zu sein. Er ist kein Wettergott. Dann dürfte es nicht schaden, wenn man ihm einen bewährten Nothelfer an die Seite stellt: Baal.
Damit ist die theologische Herausforderung skizziert, vor die sich der JHWH-Glaube gestellt sah. Wenn die religiöse Ursprungserfahrung Israels eine historische, und das heißt: eine lebensweltlich begrenzte Erfahrung war, lassen sich dann auch Erfahrungen aus gänzlich anderen, neuen Lebenswelten mit dieser Ursprungserfahrung in einen sinnvollen Zusammenhang bringen? Die Antwort der Bibel lautet: Ja, das ist möglich; aber ganz ohne Erfahrung geht es nicht.
Das Volk schwankt und kann sich nicht entscheiden. „Und Elija trat vor das ganze Volk und rief: Wie lange noch schwankt ihr nach zwei Seiten? Wenn der HERR (JHWH) der wahre Gott ist, dann folgt ihm! Wenn aber Baal es ist, dann folgt diesem!“ (1 Kön 18,21). Auf dem Karmel-Gebirge werden zwei Altäre hergerichtet. Die vierhundertfünfzig Propheten Baals rufen voller Inbrunst zu ihrem Gott; doch es geschieht nichts. Dann kommt Elija an die Reihe und ruft zu seinem Gott: „HERR, Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs, heute soll man erkennen, dass du Gott bist in Israel… Erhöre mich, HERR, erhöre mich! Dieses Volk soll erkennen, dass du, HERR, der wahre Gott bist und dass du sein Herz zur Umkehr wendest. Da kam das Feuer des HERRN herab und verzehrte das Brandopfer, das Holz, die Steine und die Erde. Auch das Wasser im Graben leckte es auf“ (1 Kön 18,36–38).
Das Volk wird in diesem Konflikt nicht durch Argumente überzeugt, sondern durch ein Geschehen. Die Aufgabe des Propheten besteht allein darin, die Alternative klar zu benennen, die Wahrheit zu bezeugen, den wahren Gott anzurufen und das Volk einzuladen, sich auf ein Experiment einzulassen, um zu sehen, was passiert. Das Risiko zahlt sich aus. Am Ende kommt das Volk zu der Einsicht: „JHWH ist Gott, JHWH ist Gott“ (1 Kön 18,39). Diese Einsicht ist eine cognitio Dei experimentalis, eine Erkenntnis Gottes aufgrund von Erfahrung. Der Philosoph Charles Taylor meint, dass der christliche Glaube in einem säkularen Zeitalter nur eine Zukunft hat, wenn er sich der Erfahrung öffnet, einer experience of fullness, einer „Erfahrung der Fülle“.