Vor wenigen Tagen erschien ein merkwürdiger Artikel des Historikers Michael Wolffsohn in der „Neuen Zürcher Zeitung“: Darin wirft er Historikern, die aus der Unterstützung Hitlers und seiner Clique durch den preußischen Kronprinzen eine erhebliche Verantwortung der Hohenzollern am Aufkommen der Nationalsozialisten ableiten, eine Neigung zur „Sippenhaftung“ vor. Dieser polemische Vorwurf stammt aus der Feder eines renommierten Wissenschaftlers, der jahrelang an der Münchener Universität der Bundeswehr lehrte. Der ungeheuerliche Angriff auf einige seiner Historikerkollegen und die Denunzierung entsprechender Fachgutachten als „Wissenschaftssirup“ sind kein spontaner, sondern ein eher kalkulierter Affront – die Haltung, der er entspringt, wird deutlich, wenn man Michael Wolffsohns im vergangenen Jahr erschienenes Buch „Tacheles“ liest.
Darin wendet sich Wolffsohn gegen Fachidiotie und verspricht, nicht um den heißen Brei herumzureden. Einem, der zum Prinzip erhebt, dass es darum gehe, erst zu denken und dann das Gedachte zu benennen, und der dann noch den eigenen Mut zum Denken und zum Aussprechen preist – dem kann man doch eigentlich gar nicht widersprechen, ohne sich selbst ins Unrecht zu setzen! Und wer will sich denn der Devise „Nicht taktisch denken, sondern faktisch“ widersetzen!? Die Frage ist indes, ob diese Art des Tacheles-Redens tatsächlich zielführend ist (wie es ja die Etymologie des jiddischen Wortes suggeriert) angesichts eines öffentlichen Diskurses, dessen Teilnehmern – den meisten jedenfalls – es wahrlich nicht an Kenntnis über die Fakten fehlt.
Wohl aber tun sich viele damit schwer, die Fakten zu deuten, einzuordnen, ihre Konsequenzen zu begreifen und die Möglichkeiten des eigenen Handelns zu ermessen. Die aktuelle Pandemie zeigt, wie sich Wissenschaftler mit einer ständig neuen Faktenlage vertraut machen (müssen) und zu Recht davor zurückschrecken, schnell „Tacheles zu reden“. Was man in der Krise an den seriösen Virologen schätzt, das kann man doch wohl auch von einem Historiker erwarten – und Michael Wolffssohn ist ja bekannt für sein bedächtiges Abwägen. Was also hat ihn zu dem bewusst forschen Ton in seinem Buch angetrieben? Hier versammelt er Aufsätze und Reden aus den vergangenen Jahren, in denen er zu ganz unterschiedlichen Themen Stellung nimmt: zur deutschen Vergangenheit innerhalb der abendländischen Geschichte, zu Zerr- und Realbildern über das Judentum, zu Ethik und Gewalt, zu herausragenden Menschen und schließlich zur Rede von den letzten Dingen.
Die Themen sind es also nicht, die einen gewissen oberflächlichen, um nicht zu sagen: flapsigen Unterton mit sich bringen, der sich durch viele der hier versammelten Texte zieht: Ist es nicht wohlfeil, die These „Wie man stirbt, so lebt man“ aufzustellen, um an ihr zu zeigen, dass Tod und Sterben tabuisiert werden? Außerdem erleben wir doch gerade genau das Gegenteil – sicherlich nicht bei allen Menschen, aber doch bei denen, die zu den potentiellen Leserinnen und Lesern dieses Buches gehören. Und grenzt es nicht an Zynismus, Demokratie und Populismus als zwei Seiten einer Medaille zu bezeichnen, und damit – sicher ungewollt – den populistischen Alleswissern, die „das Volk“ immer auf ihrer Seite zu wissen meinen, in die Hände zu spielen? Die Schwäche des von Wolffsohn gepriesenen „faktischen Denkens“ besteht darin, die Dinge auf das Faktische zu reduzieren und dabei das sogenannte Hume’sche Gesetz zu ignorieren, demzufolge Sein und Sollen niemals per se identisch sind. Die Demokratie auf das Geschrei der Vereinfacher zu reduzieren, heißt zu verkennen, dass in der demokratischen Vorstellung von Welt und Menschen weit mehr zählt als die Mehrheit der vox populi: nämlich der Schutz der Minderheiten, die Macht auf Zeit und die Verantwortung eines jeden für das Gemeinwesen.
Wirklich lesenswert ist Wolffsohns aus dem Dezember 2019 stammender Text „Antisemitismus – wider die Phrasendrescherei“, in dem er sich mit Stereotypen über „die Juden“ auseinandersetzt und damit, dass viele latent antisemitisch Denkende ihre Haltung hinter Israel-Kritik oder „Antizionismus“ verbergen. Auch Wolffsohns Darstellung der Genese des Berliner Holocaust-Mahnmals („Pietät oder Spaß?“) überzeugt ebenso wie seine Warnung davor, „Geschichtspolitik als Absolution für Tagespolitik“ zu sehen. Und seine hier unter der Überschrift „Widerstand und Bundeswehr“ abgedruckte Rede beim Gelöbnis der Bundeswehr am 20. Juli 2019 ist ein beeindruckendes Plädoyer für den Bürger in Uniform – und gegen den uniformierten Bürger.
Es sind die leisen Töne in einigen Kapiteln dieses Buches, die eben diese Kapitel zu einer wertvollen Lektüre machen. In ihnen wird eben nicht Tacheles geredet, sondern ein Gedanke tastend und reflektierend entfaltet. Wenn es das Ziel war, den Leser zu überzeugen, dann wird es in diesen Kapiteln erreicht – es sind leider nur wenige. Clemens Klünemann