Missbrauch im Licht von OsternNoli me tangere

„Fass mich nicht an.“ Was Jesus am Ostermorgen zu Maria Magdalena sagt, sollte die Kirche insgesamt beherzigen. Das erklärt Johanna Beck vom Betroffenenbeirat der Bischofskonferenz für Fragen der sexualisierten Gewalt.

Als ich kürzlich wieder einmal die von mir sehr geliebte Stelle im Johannesevangelium las, an der Maria Magdalena am offenen Grab ihrem „Rabbuni“ begegnet und so zur ersten Auferstehungszeugin wird, sprang mir plötzlich dieser Satz des auferstandenen Jesus ins Auge. Schon oft habe ich ihn gelesen, aber jetzt erst lässt er mich nicht mehr los: Noli me tangere. Es gibt verschiedene Übersetzungsvarianten – sie reichen von „Fass mich nicht an“ in der Zürcher Bibel über „Rühre mich nicht an“ in der Elberfelder Bibel bis hin zu „Halte mich nicht fest“ in der Einheitsübersetzung. Gerade der Imperativ „Fass mich nicht an!“ klingt in mir als von Missbrauch Betroffene besonders nach. Natürlich ist mir bewusst, dass diese Worte ursprünglich in einem anderen Kontext fallen. Aber ich finde es dennoch bemerkenswert, dass uns hier ein Jesus begegnet, der ganz klare Grenzen zieht, der selbstbestimmt deutlich macht, dass er in diesem Augenblick nicht berührt werden will.

Ein Jesus, der klare Grenzen zieht

Noli me tangere. Während meiner Kindheit und Jugend in einer katholisch-fundamentalistischen Gruppierung musste ich erleben, wie ein Priester während der Beichte (die nicht in einem trennenden Beichtstuhl stattfand) nicht nur bohrend-intime Fragen zum Thema „Keuschheit“ stellte, sondern auch mehrmals körperlich übergriffig wurde. Bis heute quält mich die Frage, warum ich mich damals nicht gewehrt habe, warum ich nicht „Fass mich nicht an!“ gerufen, ihm gegen das Schienbein getreten und die Flucht ergriffen habe. Die Antwort lautet: Es lag völlig außerhalb meiner Vorstellungskraft, dass ich mich hätte wehren können, ja dürfen. Ich bin mit dem Bild groß geworden, dass Priester keine normalen Menschen, sondern eher quasi-unfehlbare Halbgötter seien, dass alles, was sie tun, automatisch richtig sei und dass wir Mädchen ihnen völligen Gehorsam schuldeten. Als dann ein Priester Dinge tat, die ich für falsch hielt, war meine Schlussfolgerung: Es kann doch gar nicht falsch sein, weil es ja ein Priester tut – also musste etwas mit mir und meiner Wahrnehmung nicht stimmen.

Noli me tangere. Ich wurde älter, der Priester verschwand aus meinem Leben und ich verschwand aus der Kirche. Ich musste fortgehen, brauchte Abstand, denn alles war für mich viel zu belastet. Für mich war es fast so, als würden die übergriffigen Hände dieses Priesters auf unsichtbare Weise die gesamte Kirche überdecken. Erst viele Jahre später gelang es mir, einen neuen, besseren – und scheinbar befreiteren – Zugang zum Evangelium und einen neuen Platz in dieser Kirche zu finden. Doch meine anfängliche Freude über das Gefühl des Nach-Hause-Kommens mischte sich schnell mit Vorfällen, die ich nicht einordnen konnte: Bei Gesprächen mit Priestern bekam ich Panikattacken, ich wurde von Albträumen geplagt. Dann wurde die MHG-Studie veröffentlicht und auf einmal hatte ich eine Bezeichnung für das, was mir als Jugendliche passiert war, sowie eine Erklärung für all die irritierenden Vorfälle: Mir war in meiner Vergangenheit Missbrauch durch einen Priester geschehen. In diesem Moment der Erkenntnis war es plötzlich, als würden alle Erinnerungen und Gefühle aus der Zeit der Übergriffe geballt über mich hereinbrechen und mein Leben mit sich reißen.

Noli me tangere. Als ich anfing, meinen Fall aufzuarbeiten, stieß ich auf eine alte Mitschrift eines Referates, das mir der Täterpriester als Vierzehnjährige ins Heft diktiert hatte. Neben seinen üblichen Auslassungen zur Keuschheit und zur „Abtötung der Sinne“ fand ich dort auch Sätze wie „Öffne dich deinem Beichtvater“ und „Misstraue dir selbst“ – Täterstrategie par excellence. Auf diese Weise wurde uns Gehorsam eingeimpft, so wurde uns jegliche Grenzziehung und jegliche Selbstbestimmung bewusst abtrainiert, so wurde das „Fass mich nicht an“ aus unserem Vorstellungsvermögen getilgt, und gleichzeitig wurde unsere eigene Wahrnehmung „vorsorglich“ diskreditiert.

Mein selbstbestimmtes „Nein“

Noli me tangere. Nach langem Überlegen beschloss ich, eine kirchliche Anzeige gegen diesen Priester zu erstatten. Im Zuge dessen musste ich erfahren, dass dieser Schritt ein ungeheures Retraumatisierungspotenzial barg. Denn hier war ich lediglich eine Zeugin. Auch hier war ich wieder ohnmächtig und auch hier geschahen Dinge, die meiner Kontrolle völlig entzogen waren. Und ich musste lernen, dass im Kirchenrecht sexualisierte Gewalt primär als ein Verstoß gegen die priesterliche Amtspflicht und nicht als ein Verstoß gegen das sexuelle Selbstbestimmungsrecht und die Würde eines Menschen betrachtet wird. Nicht die Opfer, deren Perspektive und deren Leiden werden in den Blick genommen, sondern primär die Verfehlungen eines Priesters gegen das sechste Gebot.

Wenn aber einer der ersten Sätze des auferstandenen Jesus im Johannesevangelium „Noli me tangere“ lautet, warum stellt körperliche und sexuelle Selbstbestimmung ein so geringes und wenig schützenswertes Gut in der katholischen Kirche, in ihrer Sexualmoral und im kanonischen Recht dar? Wäre es nicht gerade angesichts der Missbrauchskrise und der Ergebnisse und Empfehlungen diverser Studien zu diesem Thema geboten, Noli me tangere zum obersten Leitsatz für die Kirche, ihre Prävention, ihre Kinder- und Jugendarbeit, für die dringend notwendige Reform der missbrauchsbegünstigenden Strukturen und für eine Neuausrichtung der katholischen Sexualmoral und des Kirchenrechtes zu erheben?

Das Evangelium und die Würde

Eine Präventions-, Kinder- und Jugendarbeit im Lichte von Noli me tangere würde alles daran setzen, Kinder als besonders schützenswert in die Mitte zu stellen, die Kirche wieder zu einem sicheren Raum für die ihr anvertrauten Minderjährigen zu machen und aktiv dazu beizutragen, Kinder von Anfang an zu starken, selbstbewussten, aufgeklärten und wehrhaften Menschen zu erziehen, die wissen, dass sie selbstbestimmt Grenzen setzen dürfen, dass sie „Nein!“ und „Fass mich nicht an!“ sagen können.

Eine von Noli me tangere geleitete Sexualmoral würde sich nicht wie bisher auf eine rigorose Verurteilung aller Formen außerehelicher Sexualität und auf eine naturrechtlich argumentierende, menschenfeindliche Verdammung von Homosexualität fixieren, sondern das Ethos der sexuellen Selbstbestimmung, gegenseitige Liebe und Verantwortung, das Konsens-Prinzip und den unschätzbaren Wert der menschlichen Würde fundamental in den Mittelpunkt stellen.

Ein Kirchenrecht nach dem Noli-me-tangere-Prinzip würde sexualisierte Gewalt nicht mehr vorrangig als Verstoß gegen den Zölibat, sondern in erster Linie als Vergehen gegen das sexuelle Selbstbestimmungsrecht und die Würde eines Menschen betrachten und somit explizit die Perspektive der Opfer und nicht die Perspektive der Institution und ihrer Vertreter einnehmen.

Eine Kirche, die das Noli me tangere des österlichen Jesus zu ihrer Maxime erhöbe, könnte so einen wichtigen und relevanten Beitrag zu einem gelingenden Leben leisten. Eine solche Kirche wäre wieder ein sichererer Ort für die ihr anvertrauten Kinder, Jugendlichen und Erwachsenen. Eine solche Kirche würde endlich wieder den Opferschutz über den Täter- und Institutionsschutz stellen. Eine solche Kirche wäre wieder menschenfreundlicher, gerechter, gegenwartstauglicher – und evangeliumsgemäßer. Eine solche Kirche bräuchte nicht ihren Tod zu fürchten, sondern würde nach dem gegenwärtigen Dunkel in eine bessere Zukunft auferstehen.

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