Wer zum ersten Mal vor einem Bild von Michael Triegel steht, glaubt ein altmeisterliches Renaissance-Gemälde vor sich zu haben – bis die kleinen Unregelmäßigkeiten ins Auge fallen. Da schwebt eine einsame Schreibmaschine neben einer Kreuzigungsszene. Der auferstandene Christus thront über einem ausrangierten Rollstuhl. Und in Marias blauem Mantel steckt eine hölzerne Gliederpuppe, das Kind in ihren Armen ist nur noch eine angedeutete Bleistiftzeichnung. Für die einen ist das Blasphemie, für andere eine reine Spielerei und für manche die einzige Möglichkeit, die alten Symbole in unsere Gegenwart zu holen. Eine Einladung für eigene Interpretationen. Triegel selbst möchte keine Lesart vorgeben. „Manchmal ist das Bild klüger als der Maler“, sagt er an diesem Freitagvormittag in der Rostocker Kunsthalle. „Das ist, glaube ich, auch die Voraussetzung dafür, dass es wirklich Kunst ist.“ Die Ausstellung sollte schon vor Monaten öffnen, durch Corona wurde der Termin immer wieder verschoben. Jetzt ist sie endlich offen und – nach aktuellem Stand – bis in den Juni zu sehen. Noch haben wir die Bilder ganz für uns, die Besucher kommen erst in einer Stunde.
Schon der Titel der Ausstellung ist mehrdeutig. Cur Deus ist entweder die rein philosophische Frage „Warum Gott?“ oder eine wütende Anklage: „Gott, warum?“ Und wie immer sind beide Interpretationen zulässig. Hier finden sich Auseinandersetzungen mit großen Philosophen und Theologen, die nach Gottesbeweisen oder dem Wesen der Dreifaltigkeit suchen. Neben einem Schattenbild des Gekreuzigten prangt die berühmte Pascalsche Wette, mit der der große Philosoph belegen wollte, dass es vernünftig sei, an Gott zu glauben. Doch nur wenige Schritte entfernt hängt ein Hiob, der mit gefalteten Händen, aber skeptischem Blick, Richtung Himmel schaut und dem der Maler sein eigenes Gesicht gegeben hat. Tatsächlich ist das eine Rolle, in der er sich wiederfindet – als Fragender, Suchender.
„Ich bin kein Welterklärer. Ich möchte, dass jeder, der sich die Bilder anschaut, genug Raum hat für eigene Interpretationen. Ich habe natürlich meine Lesart bei den Bildern und denke mir auch etwas dabei, aber gleichzeitig entsteht viel aus dem Unbewussten. Es ist nicht so, dass ich mich an den Schreibtisch setze und denke, ich muss jetzt dieses oder jenes relevante Thema bearbeiten. Das sind erstmal visuelle Vorstellungen. Dann kann ich mit der Zeit erst versuchen, herauszufinden: Was hat das jetzt eigentlich mit dir zu tun? Und wenn ich das halbwegs rausgekriegt zu haben glaube, kann ich auch versuchen, das Bild in eine Richtung zu drehen, dass es eben nicht nur mein Ego spiegelt, sondern für andere auch nachvollziehbar oder lesbar ist. Aber es muss trotzdem offen genug bleiben, dass es keine endgültige Antwort gibt, sondern dass es eigentlich nur ein Gesprächsangebot ist. Natürlich hole ich vieles aus der Kunstgeschichte. Ich füttere mich pausenlos mit Bildern, mit Philosophie und Theologie, und beim Malen versuche ich, das alles wieder zu vergessen. Ich vertraue darauf, dass das aus dem Unterbewusstsein im richtigen Moment hochgespült wird. Der Betrachter kann dann zu ganz eigenen Interpretationen kommen, die sich von meiner vollkommen unterscheiden, ohne dass ich sagen würde, das ist eine Fehlinterpretation. Das ist letztlich ein Angebot.“
Und wirklich: Wer sich auf die Bilder einlässt, kann nicht anders, als eigene Verknüpfungen zu ziehen. In Triegels Paradies liegen Adam und Eva träge auf einem grauen Kiesfeld, der Baum der Erkenntnis ist schon lange abgestorben. Ist das nicht ein klarer Verweis auf die Klimakrise? Eine Anklage gegen die Untätigkeit, mit der unsere Gesellschaft Artensterben und Umweltzerstörung hinnimmt? Und dann die Holzpuppen-Madonna, die von fremden Mächten in Form gebogen wurde und deren aufgemalter Mund nicht sprechen kann. Muss man das nicht als Kommentar zur „Maria 2.0“-Bewegung lesen? Die Antwort ist immer die gleiche: „Sie können das so sehen.“ Manchmal, sagt Triegel, entdeckt er in jahrzehntealten Bildern selbst Verknüpfungen, die er beim Malen damals nicht gesehen hatte. Und trotzdem sind sie da, genauso zulässig und wahr wie der ursprüngliche Gedanke hinter dem Gemälde.
„Jeder bringt ja bei seiner Interpretation eines Werkes auch immer sein eigenes Leben und seine eigene Zeit mit. Sonst könnten wir eine Madonna von Raffael nur noch historisch lesen und sagen: Jaja, damals hat man das und das geglaubt und die Leute hatten die und die Kleidung an. Aber dann wäre das Kunstwerk immer nur ein historischer Fakt, es wäre eigentlich nicht mehr lebendig. Wenn man mit Kindern und Jugendlichen in Ausstellungen der alten Meister geht, haben die nicht sofort die Schere im Kopf, die beschäftigen sich viel unbefangener damit als viele Ältere und sehen ganz eigene Dinge in den Bildern.“
Michael Triegel war so ein Kind. Die Eltern – formal getauft, aber kaum religiös – nahmen den kunstbegeisterten Jungen mit in die wenigen Ausstellungen christlicher Kunst, die es in der DDR zu sehen gab. Als andere Jugendliche Punk hörten oder aus dem Westen geschmuggelte Klamotten trugen, fand Triegel seine Form des Protests in der Kunst. „Mit ihren leuchtenden Farben waren diese Gemälde auch ein ästhetischer Gegenentwurf zum Grau der DDR“, sagt er heute. Er begann sich zu fragen, welche Geschichten die Maler in ihren Bildern erzählten. Während um ihn her Materialismus gepredigt und das Ende aller Religionen ausgerufen wurde, las er die Bibel. Die alten Texte hatten für den Jungen einen Reiz des Verbotenen, „vielleicht sogar Anrüchigen“, der ihn nie mehr losließ. Ob es heute eine ähnliche Bewegung geben könnte? Ob sich Jugendliche in einer Welt, der die Religion immer fremder wird, wieder ganz neu auf die alten Symbole, Motive und Ideen einlassen? Triegel nickt.
„Das kann ich mir schon vorstellen. Eine ausschließlich wissenschaftliche Erklärung der Welt stößt eben auch irgendwo an ihre Grenzen. Ich glaube, es gibt immer wieder zyklische Phasen – auch in der Kunst. Es gibt die Klassik der Griechen, dann kommt der Hellenismus und dann in Rom plötzlich ein Synkretismus der verschiedensten Religionen, wo alles verschmilzt und sich dadurch auflöst. Dann gibt es in der Renaissance diesen kurzen Moment – die zwanzig Jahre der Hochrenaissance, bis zu Raffaels Tod –, in dem der Mensch denkt: Jetzt kriegen wir die Welt. Auf einmal malt Dürer sein Selbstporträt in Christuspose. Auf einmal steht der Mensch an Stelle Gottes, könnte man fast sagen, und stellt sich ins Zentrum dieser Welt. Amerika wird entdeckt, der Buchdruck ist da. Aber dann merkt der Mensch: Die Welt ist so groß geworden, wo habe ich da meinen Platz? Auf einmal ist der Himmel leer gefegt. Aber was macht man mit einem leeren Himmel? Das sind Umbruchszeiten, die ich unglaublich spannend finde. Und ich glaube, in so einer befinden wir uns zurzeit auch.“
Triegel selbst hat einen solchen Umbruch hinter sich. Als Kind stand er am Martinstag mit einer Laterne auf dem Erfurter Marktplatz und stellte sich vor, wie schön es wäre, an Gott glauben zu können – „aber dann kam immer der Kopf dazwischen“. Auch als er schon einer der gefragtesten Kirchenkünstler Deutschlands ist, versucht er noch immer, zum Glauben zu finden. Er sucht nach „Damaskus-Erlebnissen“, wie er es nennt, reist in den Vatikan, feiert eine Ostermesse im Markusdom in Venedig. Doch es gelingt ihm nie, sich ganz auf die Predigten einzulassen. Als er 2010 beauftragt wird, ein Porträt von Benedikt XVI. anzufertigen, überschlagen sich die Zeitungen: Ein ungetaufter Ostdeutscher, der den Papst malt!
Erst Jahre später, mit Mitte vierzig, ist Triegel nach Exerzitien und geistigen Gesprächen doch so weit, sich katholisch taufen zu lassen. Vielleicht auch durch die Arbeit an einem Gemälde, das in der Taufvorbereitung 2013 entstand und das jetzt, dunkel und schwer, auf halbem Weg der Ausstellung hängt. Ein Gekreuzigter vor schwarzem Grund, sein Körper verdeckt von einem Tuch, umgeben von toter Materie: eine Schreibmaschine ohne Papier, ein kostbares Gewand ohne Träger, eine kitschige Jesusstatue achtlos in der Ecke. Das einzig Lebendige ist eine kleine Gestalt in traditionellem weißen Büßergewand, versunken in Anbetung. Um ihre Finger spielt eine der Schnüre, die das Tuch vor Jesus hält und Gott im Verborgenen lässt. „Deus absconditus“ ist ein Paradebeispiel für ein Werk, bei dem allzu oberflächliche Deutungsmuster schnell ins Leere laufen.
„Worum es geht, ist den Eindruck zu erwecken, man würde die Bilder kennen. Es sieht aus wie eine Malerei des 16. Jahrhunderts. Vermeintlich formal aus der Zeit gefallen. Dann stellen sich sofort Interpretationsmuster ein, wie man Bilder aus dieser Zeit zu lesen hat. Man wird dann schnell feststellen, dass diese Muster nicht greifen. Dass Ikonographie anders besetzt ist, dass Sicherheiten ins Unsichere geführt werden – sodass das Bekannte letztendlich zum Fremden wird. Das ist mein Versuch, dem vermeintlich Bekannten wieder eine neue Wertung zu geben. Inzwischen ist das Alte, glaube ich, so weit vergessen, dass es schon wieder die Chance hat, als etwas vollkommen Neues wahrgenommen zu werden. Wir können nicht mehr so selbstverständlich Symbole und Ikonographien entschlüsseln wie vielleicht noch im 19. Jahrhundert. Insofern bekommen sie etwas geradezu Surreales, wenn sie so eingesetzt werden, wie es vor fünfhundert Jahren gemacht wurde.“
Wer befürchtete, Triegels Bilder würden eindeutiger und zahmer, nachdem er katholisch wurde und damit eine vorläufige Antwort auf seinen inneren Glaubenskonflikt gefunden hat, darf beruhigt sein. Nur wenige Schritte neben dem düsteren „Deus absconditus“ hängt das gerade mal zwei Jahre alte „Imago“ (siehe Seite 1). Ein Auferstehungsbild der besonderen Art: Christus hat, umschwirrt von Schmetterlingen, auf einem Regenbogen Platz genommen. Unter ihm steht ein vergoldeter, teuer bespannter Rollstuhl einsam in der Ecke. Wie immer ist es ein Bild, das man auf tausend Arten lesen kann, doch für mich drängt sich eine auf – der Stuhl ist die Kirche, ein reich geschmückter Thron Gottes, aber zugleich ein Gefängnis, das Menschen nach Belieben herumschieben oder in der Ecke stehen lassen können. Solche Interpretationen gefallen nicht jedem. Immer wieder wird Kritik laut, dass Triegel mit dem ein oder anderen Motiv zu weit gegangen sei. Beim Porträt von Benedikt XVI. damals meldete sich sogar Papstsekretär Georg Gänswein persönlich und bat darum, das Bild umzumalen. Die „jugendliche Frische Seiner Heiligkeit“ sei nicht eingefangen, hieß es. Triegel lehnte ab, das Bild blieb, wie es war. Gefällt er sich manchmal in der Rolle des Provokateurs?
„Wenn deine Kunst jedem gefällt, dann hast du etwas falsch gemacht. Aber ich sage mir nie: Ich will jetzt provozieren. Das ist ja so eine Tendenz der Kunst seit 150 Jahren. Welches Tabu ist noch nicht gebrochen? Jede Blasphemie ist im Grunde schon begangen. Vielleicht ist es der letzte Tabubruch, der der Moderne noch übrig bleibt, zu sagen, man verweigert sich dem Tabubruch auch formal. Es gibt Leute, die knien geradezu nieder. Dann gibt’s Leute, die das ablehnen, weil sie sagen, das ist blasphemisch was der da macht. Es gibt auch den Beifall von der falschen Seite – das ist meistens das Unangenehmste. Nach dem Motto: Weg mit diesem ganzen Quatsch der modernen Kunst, endlich malt wieder einer, wie man malen muss. Das irritiert mich oft am meisten.“
Er selbst hat überhaupt nichts gegen moderne Kunst, betont Triegel. Es ärgert ihn aber, wenn plötzlich der Marktpreis im Vordergrund steht. Wenn es mehr um berühmte Namen und spektakuläre Aktionen geht als um das Kunstwerk an sich. Der Street-Art-Künstler Banksy etwa, der eines seiner Bilder bei einer Versteigerung vor laufender Kamera durch einen Schredder jagte. Das halb zerstörte Gemälde war am Ende sogar mehr wert als vorher. „Das sind solche Mechanismen, die letztlich durchschaubar sind.“ Vielleicht geht Triegel eine solche Aktion auch besonders nahe, weil er sich mit seiner Technik so viel Zeit für jedes Werk nimmt. Wie geht er da vor? Wie lange sitzt er an einem Gemälde?
„Das dauert schon lange. Der Witz soll ja darin bestehen, dass man das Gefühl hat, man hätte es schon mal gesehen, es wäre ein alter Meister – und dann zu merken, dass es heutige Gesichter sind. Um diesen Effekt zu erreichen, muss ich die Technik der alten Meister anwenden. Das Bild wird ganz langsam, Farbschicht um Farbschicht, aufgebaut. An großen Bildern male ich manchmal ein Jahr. Ich habe da einen spießigen Arbeitstag: Ich fange um acht Uhr an und male bis um 17 Uhr. Ich warte nicht ewig auf Inspiration und pinsel dann um Mitternacht im Rausch ein Bild. Es ist Arbeit, die gemacht werden muss. Wenn ich gut drauf bin, dann versuche ich das Gesicht einzufangen. Wenn nicht, mach ich irgendwas am Hintergrund. Vielleicht ist das ein Gegenentwurf zu Strömungen unserer Gesellschaft. Ich meine – wie viele Fotos machen wir mit unseren Handys jeden Tag, wie viele Selfies? Das ist eine Inflation von Bildern, die sich am Ende keiner mehr anguckt.“
Wie Triegels Version einer Selfie-Galerie aussieht, zeigt sich im nächsten Raum. Nach den Christusdarstellungen und der Maria ohne Gesicht steht jetzt ganz der heutige Mensch im Mittelpunkt. Porträts von Frauen und Männern, Alten und Jungen. Triegels Frau und Tochter hängen hier neben Passanten von der Straße. Manche Gesichter sind gezeichnet von Alter und Krankheit, andere wirken jugendlich-gesund. Völlig makellos ist niemand und doch strahlt jedes Bild eine ganz eigene Würde aus. Porträts seien ihm über die Jahre wichtiger geworden, sagt Triegel. Hinter jedem Bild steht eine Geschichte. Etwa ein Obdachloser, dem der Maler vor einer römischen Kirche begegnete und den er in mühevoller Kleinarbeit porträtierte. „In einer Technik, die früher den Päpsten und den Königen vorbehalten war – ich mache da keinen Unterschied, ob ich einen römischen Bettler male oder den Papst.“ Oder einen schwarzen Teenager, den Triegel bei einem Festzug auf einer italienischen Insel entdeckte und der mit staunend geöffnetem Mund auf einen Punkt außerhalb des Bildes blickt.
„Das fand ich sehr anrührend. Auf Procida gibt es eine Bruderschaft, die am Gründonnerstag Kreuze durch die Straßen trägt und am Karfreitag früh um fünf gibt es eine große Prozession. Das ist ganz archaisch – was ich großartig finde. Da überlagert sich Christliches und Heidnisches. Die einzelnen Viertel bauen riesige Prozessionsbilder und schleppen die über die Insel. Wie es in Süditalien ja oft ist, gibt es da auch einen Kult des Todes, der gefeiert wird. Und gleichzeitig ist man auf dieser paradiesischen Insel, auf der alles nach Zitronenblüten duftet. Das ist eine wirklich berührende Gemeinschaft, auch durch den Glauben und durch den Kultus. Ein volkstümlicher Glauben, wie ich ihn letztlich ja nicht erfahren habe und wahrscheinlich auch nie haben werde, aber nach dem ich mich sehr sehnen würde. Und da standen diese Jungs, die ein Heiligenbild schleppten, darunter auch dieser Junge. Vielleicht lebt die Familie seit zwanzig, dreißig Jahren in Italien, vielleicht ist er aber auch geflohen und grade angekommen und konnte trotzdem ganz selbstverständlich mitmachen, weil alle wussten: Da ist etwas, das uns vereint, was uns verbindet, das größer ist als wir.“
Manchmal finden sich die Gesichter aus Triegels Porträts auch auf Heiligenbildern wieder. Der römische Bettler vor der Kirchentür wird als heiliger Petrus auf einem Gemälde auftauchen. Der Maler selbst gibt den Hiob, hat aber auch den Bleistiftjesus in der Hand der Holzmadonna nach einem Kinderfoto von sich selbst gezeichnet. Seine Tochter war schon Vorbild für eine Maria. Es gibt Menschen, die finden das anmaßend. Ein Künstler, der die alten Techniken nutzt, um sich und seine Familie als biblische Figuren unsterblich zu machen, das gehe zu weit. Triegel sieht das anders: Gerade die modernen, menschlichen Gesichter holen die großen Geschichten des Christentums in die Gegenwart, machen sie wirklich fassbar.
„Ich will ja keine Abziehbilder machen. Das, woran ich glauben soll, wenn ich ein Altarbild male, möchte ich auch im wörtlichsten Sinn beglaubigen. Dass der Betrachter das Gefühl hat, das ist nicht irgendein Märchen, das da erzählt wird. Das ist keine ideale Mythenwelt, sondern ich könnte der Maria begegnen. Wenn ich meine Tochter als Vorbild für eine Maria nehme, mache ich das nicht, weil ich sie zur Ehre der Altäre erheben will, sondern weil der Betrachter das Gefühl haben soll, ich könnte dieser Frau begegnen. Das ist eben nicht die entrückte Himmelskönigin, sondern eine lebendige Frau, die ihr Leben lebt.“
Hier könnte die Ausstellung enden. Von den mythischen Anfängen der Menschheit bei Adam und Eva in ihrem Schotterparadies sind wir bis in die Gegenwart gekommen. Inzwischen ist die Stunde um und die ersten Besucher kommen durch die Gänge. Jeder still in die Bilder vertieft, jeder mit seiner ganz eigenen Interpretation. Aber einen Raum gibt es noch. In einem separaten Flur hängen zwei große Kirchenfenster. Auf dem einen hält Maria den toten Christus in den Armen, auf dem anderen ist er bereits auferstanden und findet sich Auge in Auge mit Gott-Vater. Den malt Triegel bewusst nicht als den klassischen alten Mann mit Bart, als Zeus im christlichen Gewand, sondern als Spiegelbild seines Sohnes, dazwischen eine flatternde Taube. „Auf die hätte ich eigentlich verzichten sollen“, meint Triegel nachdenklich. Der Blick zwischen den Figuren hätte als geistige Ebene ausgereicht.
Auf der anderen Seite des Raumes hängen, wie um das großartige Himmelsbild zu erden, kleine Illustrationen zu Tischreden von Martin Luther. Als er darum gebeten wurde, hätte er fast abgelehnt, sagt Triegel. Illustrationen fand er immer schwierig, weil sie den Leser so festlegen, ihm Bilder vorgeben. Außerdem wusste er nicht, ob er mit den fünfhundert Jahre alten Tischreden etwas anfangen könnte. „Ich kann nur das glaubhaft machen, was mich selbst beschäftigt, was mich auch umtreibt.“ Seine Maltechnik einzusetzen, um irgendeine beliebige Auftragsarbeit anzufertigen, würde nicht funktionieren.
„Und dann noch zu Luther, den konnte ich eigentlich nicht leiden. Aber dann las ich diese Auswahl und fand die doch anrührend, weil man ihn hier auch als Suchenden sieht. Als seine Tochter starb, wurde erst ein Sarg gebracht, der zu klein war. Und da tickte Luther richtig aus. Er reagierte wie Hiob auf dem Misthaufen und sagte, sein Geist will glauben, dass sie sich wiedersehen, sein Körper kann es nicht. Da ist er mir das erste Mal menschlich sehr nah gekommen.“
Zweifelnde, Suchende, die kann Triegel malen. Menschen, die glauben wollen, aber es nicht können, und dann irgendwann erschaudernd feststellen, dass sie doch von etwas berührt werden, das größer ist als sie selbst. Als ich gehe, fällt mein Blick noch einmal auf das große Aufmacherbild der Ausstellung. Ein Mann mit blutüberströmtem Gesicht blickt den Betrachter aus einem schwarzen Nichts heraus an. Die Augen sind erstaunt aufgerissen, der Mund steht leicht offen. Er sieht aus, als sei er gerade Zeuge eines Opfers geworden – oder eines Blutwunders. Jetzt erkenne ich, dass es ein Selbstporträt ist.
Die Ausstellung „Cur Deus“ ist voraussichtlich bis zum 6. Juni in der Kunsthalle Rostock zu sehen. Weitere Informationen gibt es unter www.kunsthallerostock.de.