Es war der emotionale Höhepunkt bei der Amtseinführung von Joe Biden als US-Präsident im Januar: Die damals 22 Jahre alte Dichterin Amanda Gorman trug Verse vor, die das Potenzial hatten, Wunden zu heilen, das zerrissene Amerika zu einen, zumindest für einen Moment. Und auch die globale Gemeinschaft blickte staunend auf den Mut, den Geist und die Energie dieser jungen Frau aus Los Angeles.
Wer darf übersetzen?
Verlage weltweit beeilten sich, das Gedicht „The hill we climb“ (Den Hügel hinauf) in die jeweiligen Landessprache zu übersetzen. Doch damit wurde das einheitsstiftende Werk zum Zankapfel. Mancherorts entbrannte Streit darüber, welche Qualifikation ein Übersetzer mitbringen muss. Reicht es, dass er oder sie die Sprachen beherrscht, ein Gefühl für Lyrik hat, den „Sound“ eines Werkes erkennen, aufsaugen und ihn in der anderen Sprache wiedergeben kann? Oder ist mehr nötig, ganz anderes sogar?
Die Fragen stellen sich, weil Amanda Gorman eine afro-amerikanische Dichterin ist. Sie bezeichnet sich selbst als Aktivistin gegen Rassismus, Ungleichheit und für Feminismus. Genau deshalb hatte sie Joe Biden auch bewusst für seinen Festakt ausgewählt – weil sie eben auch als Person für vieles steht, was in seiner Präsidentschaft wichtig werden soll. Kann man all das rüberbringen, auch wenn man nicht selbst eine schwarze junge Frau ist? Und selbst wenn: Gebietet es nicht die Fairness, die Übersetzer zumindest auch nach ihrer Hautfarbe, ihrem Geschlecht auszusuchen?
Für die Übertragung ins Deutsche hat der Verlag ein, wie es hieß, „erfahrungsdiverses“ Team engagiert: die Literaturübersetzerin Uda Strätling, die Politologin Hadija Haruna-Oelker sowie die Sachbuchautorin Kübra Gümüsay. Amanda Gormans Text ist letzte Woche erschienen (Verlag Hoffmann & Campe, Hamburg, 64 Seiten, 10 €), und das Echo auf die Veröffentlichung ist gemischt. Da sind die einen, wie Frank Heibert in der „Zeit“, die die „demonstrative verlegerische Sorgfalt“ rühmen, zugleich aber von einer „skrupulösen Lesefassung“ sprechen. Andere gehen härter mit der Übersetzung ins Gericht. Literarisch sei der Text ein Fiasko, urteilte der „Standard“.
Im Zweifel: das Original
In der Tat: Ein Gedicht ist das nicht mehr, was da auf Deutsch zu lesen ist. Man hat den Eindruck, dass es von der Last der identitätspolitischen Erwartung erdrückt wird. Das ist enttäuschend. Aber immerhin: Die Ausgabe ist zweisprachig. So bleibt der Zauber von Gormans Original zugänglich. Der Rest stimmt allerdings sorgenvoll.