Hans Küng (1928-2021)Unser Weggefährte

Wir trauern um Hans Küng. Aber vor allem sind wir dankbar für das, was er uns gelehrt und geschenkt hat. Ein persönlicher Nachruf.

Hans Küng (1928 – 2021)
Hans Küng (1928 – 2021)© Foto: Harald Oppitz/KNA-Bild

Achtung, Floskel-Alarm“, warnt der Kollege, als die ersten Reaktionen auf den Tod Hans Küngs eintreffen. Vieles, was jetzt gesagt und geschrieben wird, ist tatsächlich erwartbar, wirkt routinehaft vorbereitet. Das Wörtchen „streitbar“ etwa darf oft nicht fehlen. Vom „populären Kirchenkritiker“ sprach die „Frankfurter Allgemeine“, auf „Tagesschau online“ nannte man ihn einen „frommen Rebell und Reformer“. Wer es nüchterner versuchte, würdigte Hans Küng als herausragenden Theologen, leidenschaftlich Engagierten für die Ökumene und den Dialog der Weltreligionen.

All das ist richtig. Aber es bleibt blass, Stückwerk, wird Küngs Bedeutung nicht im Ansatz gerecht. Vielleicht wäre einfach dankbares Schweigen und Gedenken angesagt.

Sein Blick aufs Heimgehen

Oder, noch besser, Hans Küng selbst kommt zuerst zu Wort. „Die Zeit meines Abschieds steht bevor“, schrieb er schon vor ein paar Jahren im letzten Kapitel seiner „Erinnerungen“, den zweiten Brief an Timotheus (4,6) zitierend. Die Parkinson-Krankheit sei bei ihm festgestellt worden, er nehme täglich mehr als ein Dutzend Tabletten ein. „Ich habe noch ausreichend Lebensenergie, aber sie nimmt fühlbar ab. Meine ernsten Gebrechen kann ich nicht heilen, nur in Grenzen halten…“

Ungewöhnlich nahe kommt einem da der große Denker, wie er offen über seine schwindenden Kräfte spricht. Und noch näher, wenn er freimütig erklärt: „Ich meine, meine große Aufgabe erfüllt zu haben, bin guten Mutes … und bereit, jeden Tag aufzubrechen.“ Dies „ergebe sich“ aus seinem Glauben an den gnädigen Gott, aus seinem Vertrauen, „dass ich nicht in ein Nichts, sondern in die barmherzigen Hände Gottes falle.“ Was für eine Gnade, den eigenen Tod so in den Blick nehmen zu können. Ach was, „Tod“ – wo, wenn nicht hier, wäre das schöne alte Wort vom „Heimgang“ angemessener?

Und noch ein solch zu Herzen gehendes Wort fällt mir bei Hans Küng ein: Weggefährte. Genau das war er für die Kirche insgesamt, aber gerade auch für mich selbst. Ich erinnere mich noch gut, wie ich zum ersten Mal mit ihm in Berührung kam. Das war in den 1980er Jahren, in einem theologischen Gesprächskreis junger Erwachsener in meiner Heimatpfarrei. Wir lasen gemeinsam Küngs „20 Thesen zum Christsein“, den Extrakt seines kurz vorher erschienenen Hauptwerks „Christ sein“. Es war eine Offenbarung.

Diese Thesen mögen ihren Weg gehen, formulierte Hans Küng im Vorwort: „nicht aufgehalten von denen, die überall nach Häresien fahnden; helfend denen, die nicht nur nach einer besseren Christenlehre, sondern vor allem nach einem besseren Christsein fragen“. Ich gebe zu, der forsche Ton, der Freimut haben mich zuerst verunsichert. Darf man so denken, so reden? Das war doch dieser Theologe, dem man die Lehrerlaubnis entzogen hatte. Durfte man den überhaupt gut finden? Doch Hans Küng hatte mich bereits gepackt. „Jesus war kein Priester. Er war ‚Laie‘, auffälligerweise unverheiratet, und Anführer einer Laienbewegung“, schrieb er weiter in einer der Thesen.

Wenn ich zurückblicke, war genau das mein Startpunkt mit dem „Weggefährten“ Hans Küng. Wenn man so will, lehrte er mich das kritische Denken auch im Glauben, führte mich zum Theologiestudium. Und zugleich bot er mir ein ums andere Mal „Stoff“ zur Gewissenserforschung. „Christ sein bedeutet: in der Nachfolge Jesu Christi in der Welt von heute wahrhaft menschlich leben, handeln, leiden und sterben – in Glück und Unglück, Leben und Tod, gehalten von Gott und hilfreich den Menschen.“ Was für eine Zusammenfassung des christlichen Programms!

Er bleibt eine Instanz

Seit der Initialzündung damals hat mich Hans Küng begleitet, persönlich und im Beruf. Jedes Werk von ihm habe ich verschlungen. Und als mich mein Vorgänger, Johannes Röser, einst beim Vorstellungsgespräch nach Hans Küng fragte, fühlte es sich wie ein Heimkommen an. Für den CHRIST IN DER GEGENWART war und bleibt Küng eine Instanz. Selbst bei vielen aktuellen Themen fragen wir uns sehr oft, ob nicht er dazu schon etwas Maßgebliches gesagt hat. Meistens ist es so.

Apostolische Autorität

Bereits in den 1970er Jahren etwa stellte Hans Küng fest: „Gegen einen Presbyterat (Priesteramt; d. Red.) der Frau gibt es keine ernsthaften theologischen Gründe.“ Dass sich in dieser Frage derzeit nichts bewege, ließ ihn nicht mutlos werden. Selbst ein aktuell uneinsichtiges Lehramt werde, „früher oder später den Kampf gegen die Gleichberechtigung der Frau ebenso verlieren wie den gegen die ‚Hexen‘ oder den gegen Demokratie und Menschenrechte“.

Welche Weitsicht! Johannes Röser würdigte Hans Küng deshalb einmal so: „Der Schweizer-Tübinger Gelehrte hat zweifellos ‚apostolische‘ Autorität, als anerkannter Lehrer des Glaubens, inzwischen … ohne offizielle Lehrerlaubnis. Die Menschen hören ihm trotzdem gern zu und setzen sich mit ihm auseinander. Er kann überall, wo er hinkommt, auf ein kritisches Publikum zählen, das in großen Teilen höchst unzufrieden ist mit dem, was ihm vom kirchlichen Lehramt als übliches theologisches Angebot vorgesetzt wird. Küng redet den Leuten nicht nach dem Mund, aber er spricht vielen aus der Seele. Wie kann es nur sein, fragt man sich, dass die Kirche einem ihrer Besten weiterhin die Rehabilitierung verweigert?“

Selbstverständlich hat Hans Küng auch irritiert. Das galt zuletzt für seine Haltung zur aktiven Sterbehilfe. Er wolle keinen Zustand akzeptieren, „in dem ich meine engsten Verwandten nicht mehr erkenne und fast alle Erlebnisse meines langen Lebens vergessen habe“. Das unbedingte, irgendwann womöglich unerbittliche Nein der Kirche zur Sterbehilfe – Küng sprach von „Euthanasie“ im Sinne eines „guten Todes“ – könne er nicht hinnehmen. „Dass ich schließlich ein Leben auf vegetativem Niveau zu akzeptieren hätte, lasse ich mir von niemandem als Wille Gottes für mich einreden. Auch möchte ich gerade als Christ nicht, dass man dies anderen Betroffenen einredet.“

Da wird eben keine Doktrin verkündet – denn von der kann man nicht leben, geschweige denn getröstet durch sie sterben… Welche Ehrlichkeit, was für ein Ernstnehmen der existenziellen Herausforderung! Wer will hier für seine Sterbensstunde anderes reklamieren?

Nun hören wir Hans Küngs Stimme in seinen Büchern. Fast hätte ich „nur noch“ geschrieben. Seien wir dankbar, dass wir sie haben! 2015 begann der Verlag Herder mit der Herausgabe seiner sämtlichen Werke. Jeder einzelne Band ist es wert, in die Hand genommen und durchstöbert zu werden. Hans Küng lässt sich damit immer tiefer entdecken, auch jenseits der Hauptwerke. Aufschlussreich ist ebenso die kommentierende Einordnung durch den Autor, oft viele Jahre nach der Erstveröffentlichung verfasst.

Was noch aussteht

Zu finden ist darin auch der berührende Text „Mein geistiges Vermächtnis“, gut zehn Jahre „alt“. Ganz Hans Küng widmet er sich darin zunächst seiner Hoffnung für Kirche und Welt. Er habe nach wie vor die Vision einer versöhnten Christenheit, eines Friedens der Religionen und einer echten Gemeinschaft der Nationen. „Ich werde so wenig wie Martin Luther King die Erfüllung meiner Vision erleben. Aber ich werde sie auch nicht mit mir ins Grab nehmen. Sie wird weitergetragen von der Sehnsucht ganzer Generationen nach einer friedlicheren, gerechteren, humaneren Welt. Daran glaube ich.“

Erst im zweiten Schritt fragt Hans Küng: „Und was geschieht mit mir? Ich hoffe darauf, dass es auch für mich einmal eine Auflösung aller Widersprüche und ein Dasein in Harmonie, Frieden und Glück geben und mir an meinem Ende das zuteilwird, was in der ganzen christlichen Tradition die Vision schlechthin, die visio beatifica, die ‚seligmachende Schau‘ genannt wird … Darin erfüllt sich für mich, so hoffe ich, was ich glaube.“

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