Kirche und Kommunismus - ein zulässiger Vergleich?Wollt ihr auch gehen?

Der Vergleich hinkt und liegt dennoch bestürzend nah: Die weltfremde und erneuerungsunfähige Kirche in ihrer Krise gleite in eine Implosion – wie die kommunistischen Diktaturen vor 30 Jahren. In Debatten über die zahlreichen Austritte aus der katholischen Kirche wird auch an die Ereignisse in der DDR vom Herbst 1989 erinnert.

Joachim Jauer, geboren am 26. Juli 1940, ist ein Urgestein des öffentlich-rechtlichen Fernsehens. Als Leiter des ZDF-Büros in der DDR und Redaktionsleiter der Magazinsendung „Kennzeichen D“ wurde er vor allem als Chronist des Mauerfalls und des Zerfalls des Warschauer Pakts bekannt. Im Verlag Herder ist 2019 sein Buch „Die halbe Revolution – 1989 und die Folgen“ erschienen.© Foto: privat

Massenflucht aus der roten Diktatur und hunderttausendfacher Austritt aus der katholischen Kirche: Das ist eine ungeheuerliche Parallele, an die nur zu denken einen fast weinen lässt. Doch die einen verließen damals – sogar unter Lebensgefahr – die eingemauerte Diktatur, warfen Parteibuch oder sozialistische Erziehung weg, die anderen geben heute – völlig gefahrlos – beim Amtsgericht per Papier ihre Kirchenmitgliedschaft auf, sparen Kirchensteuer, halten oft jedoch an ihrem Glauben fest. Nebenbei: Die nahezu gleich starken Abgänge aus den evangelischen Kirchen werden nicht im gleichen Zusammenhang genannt.

Fluchtursachen

Ich habe in den revolutionären Monaten 1989 als Korrespondent zahllose Flüchtlinge, Alte und Junge, Antikommunisten und Genossen getroffen, ihre Verzweiflung kennen gelernt, ihren bitteren Bruch mit Familie und Heimat, ihre Wut auf die Zustände im sozialistischen Staat. Und ich habe sie nach den Motiven ihrer Flucht gefragt. Da wurde das Westreiseverbot genannt, schlechte Arbeitsbedingungen, Schlendrian in den Betrieben, miese Löhne und Gehälter, im Vergleich zum Westen niedriger Lebensstandard ohne Aussicht auf Besserung. Doch neben diesen Klagen über materielle Missstände wurde sehr oft über die Bevormundung durch Partei und Behörden sowie „bürokratisches Verhalten von Leitern und Mitarbeitern staatlicher Organe und Einrichtungen“ geschimpft. Dabei tauchte in vielen Gesprächen ein ungewöhnlicher Begriff auf: „Herzlosigkeit im Umgang mit den Bürgern“, eine Formulierung, die in mehreren Analysen der bestens informierten Staatssicherheit wiederholt wird. Weitere Fluchtmotive laut Stasi: „Verärgerung über unzureichende Dienstleistungen und Unverständnis über die Medienpolitik der Partei“.

„Herzlosigkeit im Umgang mit den Bürgern“ und „Mangel an Barmherzigkeit mit homosexuellen, wiederverheiratet Geschiedenen, ehelos liebenden Katholiken“ – darf man da eine Parallele ziehen? Er leide an der Kirche, wenn sie „durch erstarrte Strukturen und mangelnde Veränderungsbereitschaft vielen den Zugang zum Glauben blockiert“, schreibt der Vorsitzende der Bischofskonferenz, Georg Bätzing.

Der ehemalige Prior und umtriebige Wirtschafter des bayerischen Klosters Andechs, Anselm Bilgri, 1980 von Kardinal Ratzinger zum Priester geweiht, verließ 2004 die Mönchszelle und wurde Unternehmensberater. Mitte März 2021 hat er seinen langjährigen Partner Markus Achter geheiratet. Bilgris Abschied von Kloster und Zölibat, sein Austritt aus der römischen Kirche gelten ihm und den Medien als positiver Befreiungsschlag, der die monothematische Negativ-Berichterstattung über Missbrauch und Vertuschung von Verbrechen ergänzt. So wird das Gesamtbild der Kirche verzerrt.

Denn die andere Seite, die still tröstende Seelsorge, aktuell der riskante Beistand zahlreicher Priester etwa an den Intensivbetten von Corona-Patienten, wird nahezu ausgeblendet. Allein in Italien sind weit über 200 Priester-Seelsorger an den Krankenbetten der Pandemie gestorben. So werden die treuen „Diener im Weinberg des Herrn“ stillschweigend in Mithaftung genommen. Denn Aufmerksamkeit in den Medien garantiert nicht die segnende, sondern die sündige Hand des Priesters. Anlass für Ungezählte, der Kirche den Rücken zu kehren. Der Religionssoziologe Detlef Pollack kommentiert: „Die Skandalisierung der katholischen Kirche hat schon etwas von einem Hype“. Und: „In diesem Zusammenhang werden die positiven Erfahrungen von Millionen Katholiken unterschlagen“.

Bevorzugtes Spottobjekt

Weil restlose Aufklärung durch unabhängige Gutachter und konsequente Zuwendung zu den Opfern nach vielen Jahren immer noch auf sich warten lassen, ist die Kirche, sind Priester zum bevorzugten Spottobjekt der Satire geworden. Im katholisch geprägten Köln wurde beim Rosenmontagsumzug 2021 eine Bischofsfigur gezeigt, die anstelle einer Mitra eine Phallus-Spitze über dem feisten Gesicht trug. Motto: Das Kernproblem der katholischen Kirche. Je heftiger der Spott, desto mehr fühlen sich einige Hirten und traditionelle Katholiken „ungerecht“ angegriffen, verschanzen sich und verweisen auf eine „antikirchliche Kampagne“. Nebenbei: Dass der von der Bischofskonferenz zur Aufklärung von Missbrauchsverbrechen bestellte Bischof noch immer „Missbrauchsbeauftragter der Katholischen Kirche“ heißt, zeigt die grobe sprachliche Gedankenlosigkeit, ist der Mann doch nicht mit Missbrauch beauftragt, sondern der Aufklärung und dem Kinderschutz verpflichtet.

Kirchensprache macht Politik

Der sowjetische Generalsekretär Michail Gorbatschow verlangte zu Beginn seiner Reformen vor allem Offenheit, Kritik, und machte aus dem russischen Wort für „Stimme“ голос/golos, Glasnost. Interessant dabei: Der kommunistische Parteichef nutzte dafür das ältere Wort für „Stimme“ glas, das aus der russischen Kirchensprache stammt. 70 Jahre hatten die Sowjetmenschen gelernt und verinnerlicht, dass es sicherer sei, öffentlich den Mund zu halten. Nun sollten sie unter Gorbatschow die Missstände in Betrieben und Kommunen kritisieren. Sie taten es. Und da sie nun ungestraft offen reden durften, rechneten sie bald mit der alltäglichen Unterdrückung ab, mit der Lenin und Stalin das Land jahrzehntelang überzogen hatten. Es ging um das „Sagen der Wahrheit“ und um die Trauer über einen von oben verordneten Glauben an eine „bessere Zukunft“, der keinen Zweifel zuließ.

Eine Initiative „Katholischer Klartext“ lässt Kirchenmitglieder zu den bekannten Problemfeldern abstimmen: „Aufarbeitung statt Vertuschung, wirklichkeitsnahe Lebensformen statt Pflichtzölibat, Gleichberechtigung statt männlicher Dominanz, Transparenz statt Geheimniskrämerei“. Die Aktion will die Bischöfe durch zeitweilige Verweigerung der Kirchensteuer unter Druck setzen. „Ich wäre bereit, temporär unter Berufung auf die vorgenannten Reformanstöße auszutreten, meine Kirchensteuer anderweitig zu spenden und nach wesentlichen Veränderungen wieder in meine Kirche einzutreten“, empfiehlt „Klartext“, als wäre die Gemeinde Christi ein Verein. Die Kirche wäre dann nur noch Menschenwerk. Derlei Aktionen verlangen zu Recht kirchliche Glasnost: wegen enttäuschter Hoffnungen auf Reformen, aus Zorn über die deutsch-römischen Netzwerke von bremsenden Hirten und wegen fehlender Gleichberechtigung von Klerikern und Laien, wenn sie denn auf erpresserischen Druck verzichteten. Kritische Journalisten bleiben für Glasnost unentbehrlich. Sie haben sich unverzichtbare Verdienste erworben bei der Aufklärung von Missbrauch, weil verantwortliche Kleriker bis heute unter Sprachhemmung leiden.

Demokratisierung und Boykott

Dann forderte Gorbatschow Demokratisierung, also die freie Wahl eines Staatspräsidenten durch das Volk. Regionale Parteichefs und Leiter von Industriekombinaten verweigerten den Gehorsam und boykottierten die Reformen. Nur durch freie Wahlen, die Mitsprache der Bürger, wurde das Machtmonopol der Kommunisten ebenso gebrochen wie der Anspruch der Partei, Hüter der revolutionären Traditionen und alleiniger Besitzer der Wahrheit zu sein. Noch ist in Rom – auch in Deutschland – schwer vorstellbar, dass Laien, also Nicht-Kleriker, an Bischofs- und Gemeindepfarrer-Wahlen beteiligt werden. Die sowjetischen Medien fanden kaum ein gutes Wort für Gorbatschow. Wegen des massiven Widerstands der meisten Funktionäre, die um ihren Besitzstand fürchteten, zögerte Gorbatschow und scheiterte schließlich. Kardinäle und auch deutsche Bischöfe lassen die Reformanstrengungen des Papstes, der sich Franziskus nennt, ins Leere laufen oder betrachten ihn sogar als Zerstörer ihrer – als von Gott verliehen geglaubten – Privilegien.

Als sich viele Menschen über Jesu Botschaft ärgerten, fragte er seine Jünger: „Wollt auch ihr gehen?“ Und Petrus antwortete: „Herr, wohin sollten wir gehen?“ Niemand weiß, ob die Hunderttausenden, die aus der Kirche ausgetreten sind, nicht doch weiter wie Petrus darauf vertrauen: „Du, Herr, hast Worte des ewigen Lebens!“ 1989 haben Hunderttausende die DDR verlassen, sind aus der „sozialistischen Menschengemeinschaft“ ausgetreten. Ihr Verdienst: Sie haben den Daheimgebliebenen Mut gemacht, gegen die Mauer anzurennen. Weil aber die meisten in ihrer Heimat verblieben sind, haben sie nach dem Mauerfall das Land verändert.

Katholische Kirche heute und Kommunismus gestern. Ein bitterer Vergleich, der ein Denkanstoß sein sollte. Der roten Diktatur weint kaum jemand eine Träne nach. Ein Zusammenbruch der katholischen Kirche – vergleichbar der Implosion der kommunistischen Diktaturen und ihrer Ideologie – ist auch für den kritischen Beobachter, aber besonders für den Glaubenden nicht vorstellbar. Ein Filmuntertitel wie der im ZDF am Ostermontag abends: „Eine Institution gerät ins Wanken“ ist angesichts der weltweit wachsenden Kirche eine unbewiesene Behauptung, ein un-frommer Wunsch und schlicht Quotenfang. Der an seiner Kirche leidende Katholik vertraut auf die Zusage des Auferstandenen: „Ich bin mit euch alle Tage bis zum Ende der Welt“. Und er bleibt bei seiner Kirche und weint mit ihr, wenn der Hahn zweimal kräht. Joachim Jauer

Joachim Jauer, geboren am 26. Juli 1940, ist ein Urgestein des öffentlich-rechtlichen Fernsehens. Als Leiter des ZDF-Büros in der DDR und Redaktionsleiter der Magazinsendung „Kennzeichen D“ wurde er vor allem als Chronist des Mauerfalls und des Zerfalls des Warschauer Pakts bekannt. Im Verlag Herder ist 2019 sein Buch „Die halbe Revolution – 1989 und die Folgen“ erschienen.

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