In den letzten Monaten hat ein Buch von sich reden gemacht, das bislang selten im Zentrum der öffentlichen Aufmerksamkeit stand: der 1992 vorgelegte Katechismus der Katholischen Kirche (KKK). Umstritten ist, was dieser Katechismus über Homosexualität zu sagen hat. Homosexualität sei eine „schlimme Abirrung“, sexuelle Begegnungen von Menschen gleichen Geschlechts seien „in sich nicht in Ordnung“, „gegen das natürliche Gesetz“ und „in keinem Fall zu billigen“ (KKK 2357).
Georg Bätzing, der Vorsitzende der deutschen Bischofskonferenz, hat zu Beginn dieses Jahres dafür geworben, dass die Kirche ihre Haltung gegenüber homosexuellen Menschen überdenken möge. Für gleichgeschlechtliche Paare, die um den Segen Gottes bitten, müssten Lösungen gefunden werden, „die nicht nur im Privaten greifen, sondern auch eine öffentliche Sichtbarkeit haben – aber auch deutlich machen, dass keine Ehe gestiftet wird.“ Die katholische Kirche in Deutschland könne dafür Formen finden, die keiner römischen Approbation bedürfen. „Allerdings kann ich für mich sagen“, so Bischof Bätzing in der Herder Korrespondenz Anfang dieses Jahres, „dass ich nach intensiver Auseinandersetzung meine, dass wir den Katechismus in dieser Hinsicht ändern sollten.“
Andere Oberhirten, etwa Helmut Dieser, der Bischof von Aachen, äußerten sich ähnlich. Solche Rufe nach einer Veränderung des Katechismus werfen auch jenseits des Umgangs mit gleichgeschlechtlichen Partnerschaften eine Frage auf: Wie ist das Verhältnis zwischen Katechismus und katholischer Glaubenslehre?
Zunächst zum Begriff: Das Wort „Katechismus“ bezeichnet erstens das Geschehen der Glaubensunterweisung, den Katechismusunterricht. Es bezeichnet zweitens ein Lehrbuch, das als Hilfsmittel dieser Glaubensunterweisung dient und Glaubensinhalte bündelt. Davon ausgehend hat sich eine dritte Bedeutung entwickelt, die unter dem Wort „Katechismus“ auch jenseits des Religiösen eine kurze Einführung in ein bestimmtes Themengebiet versteht.
Beim Katechismus der Katholischen Kirche handelt es sich um einen Katechismus im zweiten Sinne. Im Anschluss an die Außerordentliche Bischofssynode 1985, die den Wunsch nach einem universalkirchlichen Katechismus geäußert hatte, der den lokalen Büchern der Glaubensunterweisung als Orientierungshilfe dienen sollte, setzte Johannes Paul II. eine Kommission unter dem Vorsitz von Joseph Kardinal Ratzinger mit der Aufgabe ein, einen „Welt-Katechismus“ zu erarbeiten.
Das Ergebnis wurde der Öffentlichkeit am 11. Oktober 1992, genau 30 Jahre nach Eröffnung des Zweiten Vatikanischen Konzils, in Gestalt eines Buches mit dem Titel Katechismus der Katholischen Kirche vorgelegt. Dieser Katechismus benennt drei Gruppen, an die er sich richtet. Er sei „hauptsächlich für die bestimmt, die für die Katechese verantwortlich sind: in erster Linie für die Bischöfe“, denen er als „Arbeitshilfe angeboten“ werde. „Über die Bischöfe richtet er sich auch an die Verfasser von Katechismen, an die Priester und Katecheten“ (KKK 12). Genau wie der 1566 von PiusV. veröffentlichte, sogenannte Tridentinische Katechismus ist der Katechismus von 1992 also ein Hilfsinstrument für diejenigen, die den Verkündigungsdienst wahrnehmen. Erst an dritter Stelle, nach den Bischöfen und Katecheten, heißt es, dass der Katechismus „eine nützliche Lektüre für alle anderen gläubigen Christen“ (KKK 12) sein wolle.
Der Charakter dieses Buches als „Arbeitshilfe“, die „angeboten“ werde und „nützlich“ sein könne, ist in den vergangenen Jahren aus dem Blick geraten. Der Katechismus ist zu einem normativ aufgeladenen Text geworden, zu einer Art lehramtlichem Superdokument, das nicht selten als Markstein des wahrhaft Katholischen betrachtet wird. Ein Beitrag auf der rechtskonservativen Aktivistenseite kath.net fragte kürzlich, ob es sich bei pastoralen Laienmitarbeitern „um gläubige Katholiken im Sinne des ‚Weltkatechismus‘“ oder um vom katholischen Glauben Abgefallene handle; die Zahl der Katholiken in Deutschland, so war auf kath.net zu lesen, dürfte gegenwärtig, „legt man den Katechismus von 1992 als Maßstab des Glaubens an, geringer sein als die Zahl der Mitglieder jüdischer Gemeinden.“
Ein solcher Umgang mit dem Katechismus verkennt nicht nur das Selbstverständnis dieses Buches als Hilfe und Angebot, sondern erliegt auch einem Irrtum mit Blick auf den Inhalt des Katechismus. Es ist naiv zu meinen, der Katechismus der Katholischen Kirche sei lediglich eine neutrale, objektive Zusammenfassung katholischer Glaubensinhalte. Dass er das nicht ist, hat kein Geringerer als Joseph Ratzinger zu bedenken gegeben. Ratzinger verwahrte sich 1993 gegen die Kritik des Philosophen Jean Guitton, „unser Katechismus komme 25 Jahre zu spät“, mit dem Argument, dass unmittelbar nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil „einfach noch nicht das ganze Ausmaß der Probleme sichtbar geworden war; dass ein Prozess der Gärungen eben erst eingesetzt hatte, der nur allmählich zu jenen Klärungen führen konnte, die für ein neues gemeinsames Wort notwendig waren.“ (Ratzinger, Hinführung zum Katechismus der Katholischen Kirche [Gesammelte Schriften 9/2], Freiburg 2016, S. 1006).
Der Katechismus als „neues[!] gemeinsames Wort“ bildet also nicht einfach die überlieferte Glaubenslehre ab, sondern versucht als Ergebnis „allmählich“ eintretender „Klärungen“, diese Glaubenslehre gegen die „Gärungen“ der vergangenen Jahrzehnte in Stellung zu bringen. Der Katechismus verdankt sich einer bewusst eingenommenen Abwehrhaltung. Diese Einsicht ist wichtig, um das Verhältnis zwischen ihm und der katholischen Glaubenslehre, wie sie in Konzilsdokumenten oder anderen lehramtlichen Texten zum Ausdruck kommt, richtig zu bestimmen.
Ein Beispiel: Das Erste Vatikanische Konzil definierte erstmals, was unter einem Dogma genau zu verstehen sei. „Mit göttlichem und katholischem Glauben ist all das zu glauben, was im geschriebenen oder überlieferten Wort Gottes enthalten ist und von der Kirche … als göttlich geoffenbart zu glauben vorgelegt wird.“ (Denzinger-Hünermann 3011) In einem Dogma kommen nach Verständnis des Ersten Vatikanischen Konzils der Glaube an Gott (göttlicher Glaube) und das gläubige Selbstverständnis der Kirche (katholischer Glaube) zur Deckung. Die Kirche verbindet ihre Identität als Gemeinschaft der an Christus Glaubenden mit einer bestimmten Interpretation der in Christus ergangenen Offenbarung. Mit Blick auf das Erste Vatikanische Konzil ist klar, dass nur das zum Dogma werden kann, was „im geschriebenen oder überlieferten Wort Gottes“, also in der Bibel oder der Tradition als Bezeugungsinstanzen der Offenbarung, enthalten ist. Anders gesagt: Die Grenze der Offenbarung ist auch die Grenze des Dogmas.
Das Zweite Vatikanische Konzil hat, obwohl es den Begriff des Dogmas meidet und in seiner Offenbarungstheologie andere Akzente setzt, an dieser Festlegung nicht gerüttelt. Im Pontifikat Johannes Pauls II. wurde jedoch lehramtlicherseits mit aller Macht versucht, den Geltungsbereich dogmatischen Lehrens über die Offenbarung hinaus auszuweiten. Unfehlbares Lehren sollte sich demnach nicht nur, wie bisher, auf geoffenbarte Inhalte beschränken, sondern auch auf den Sekundärbereich dessen, was mit der Interpretation der Offenbarung – in geschichtlich wechselhafter, veränderlicher Weise – zusammenhängt, ausgeweitet werden. Der Katechismus von 1992 stellt den Höhepunkt dieser Entwicklung dar.
Für den Katechismus sind Dogmen Wahrheiten, „die in der göttlichen Offenbarung enthalten sind oder die mit solchen Wahrheiten in einem notwendigen Zusammenhang stehen“ (KKK 88). Der erste Teil dieser Formel bewegt sich auf der Linie des Ersten und Zweiten Vatikanischen Konzils. Der zweite Teil jedoch – die Rede von den Wahrheiten, die mit der Offenbarung in Zusammenhang stehen – ist eine Ausweitung des Dogmenbegriffs. Durch sie können der Papst oder das Bischofskollegium auch zeitbedingte Hilfsannahmen, die zum Ver- ständnis der Offenbarung von manchen als notwendig angesehen werden, sich theologiegeschichtlich jedoch öfters gewandelt haben, zu Dogmen erheben.
Der Katechismus spricht mit dem Ziel, nachkonziliare Entwicklungen, die aus Sicht des Papstes problematisch erscheinen, kraftvoll zurückweisen zu können, dem Lehramt eine Kompetenz zu, die die vergangenen beiden Konzilien ihm ausdrücklich nicht zugesprochen haben. Dass diese Ausweitung des Dogmenbegriffs kein Glasperlenspiel ist, sondern von großer Relevanz, zeigt sich an den Diskussionen um die Frauenordination. Die Aussage Johannes Pauls II., dass Frauen kein sakramentales Amt bekleiden könnten, bewegt sich nämlich genau in jenem Bereich des – aus päpstlicher Sicht – notwendig mit der Offenbarung Zusammenhängenden. Ob dieser Bereich überhaupt Gegenstand unfehlbaren Lehrens sein kann, war bis zum Pontifikat Johannes Pauls II. und ist bis heute umstritten. Wer gar meint, beim Nein zur Frauenordination handle es sich um ein Dogma, hat nicht die Tradition der Kirche auf seiner Seite, sondern lediglich den Katechismus von 1992 – und damit eine Tradition, die noch keine 30 Jahre alt ist.
Ein weiteres Beispiel: Das Zweite Vatikanische Konzil lehrte in seiner Pastoralkonstitution Gaudium et Spes(GS), „dass wir mit all unseren Kräften jene Zeit vorbereiten müssen, in der auf der Basis einer Übereinkunft zwischen allen Nationen jeglicher Krieg absolut geächtet werden kann. Das erfordert freilich, dass eine von allen anerkannte öffentliche Weltautorität eingesetzt wird, die über wirksame Macht verfügt, um für alle Sicherheit, Wahrung der Gerechtigkeit und Achtung der Rechte zu gewährleisten“ (GS 82). Weil es eine solche „Weltautorität“ trotz des Bestehens der Vereinten Nationen zur Zeit des Konzils noch nicht in effektiver Weise gab, räumte die Pastoralkonstitution ein: „Solange die Gefahr von Krieg besteht und solange es noch keine zuständige internationale Autorität gibt, die mit entsprechenden Mitteln ausgestattet ist, kann man, wenn alle Möglichkeiten einer friedlichen Regelung erschöpft sind, einer Regierung das Recht auf sittlich erlaubte Verteidigung nicht absprechen“ (GS 79).
Der Katechismus macht sich diesen Balanceakt zwischen Pazifismus und Realismus nicht zu eigen und lässt die Pastoralkonstitution – im mehrfachen Sinne des Wortes – links liegen. Die durch das Konzil geforderte „Weltautorität“, die eine tragende Säule der in Gaudium et Spes entworfenen Friedensordnung ist, kommt im Katechismus unter dem Kapitel „Aufrechterhaltung des Friedens“ (KKK 2302–2317) nicht mehr vor. Stattdessen ist dort wieder von einem „gerechten Krieg“ (KKK 2309) die Rede, also dem, wovon das Konzil ausdrücklich nicht gesprochen hatte und was laut Konzil die angestrebte „Weltautorität“ verhindern sollte.
Dass der Katechismus sich die Freiheit nimmt, von den Festlegungen Ökumenischer Konzilien abzuweichen, wurde bereits beim Dogmenbegriff deutlich. Das Besondere mit Blick auf die Friedensethik besteht jedoch darin, dass Papst Franziskus sich wiederum die Freiheit genommen hat, den Katechismus offen zu kritisieren. Das scheinen bislang aber nur wenige bemerkt zu haben. In seiner jüngsten Enzyklika Fratelli tutti bemängelt der Papst an den im Katechismus genannten Kriterien für einen gerechten Krieg ausdrücklich, dass sie für „eine allzu weite Auslegung“ anfällig seien; in der Tat „gaben in den letzten Jahrzehnten alle Kriege vor, ‚gerechtfertigt‘ zu sein“ (FT 258). Die Formel des Katechismus, der „Gebrauch von Waffen“ dürfe „nicht Schäden und Wirren mit sich bringen, die schlimmer sind als das zu beseitigende Übel“ (KKK 2309), hält Franziskus für untauglich, denn die „Risiken werden wahrscheinlich immer den hypothetischen Nutzen, der ihm (dem Krieg, Anm. d. Red.) zugeschrieben wurde, überwiegen. Angesichts dieser Tatsache ist es heute sehr schwierig, sich auf die in vergangenen Jahrhunderten gereiften rationalen Kriterien zu stützen, um von einem eventuell ‚gerechten Krieg‘ zu sprechen“ (FT258). Dies gelte vor allem angesichts der Zerstörungskraft atomarer Kampfmittel, weshalb der Papst das Streben nach einer „vollkommenen Abschaffung“ dieser Waffen zu „einer moralischen und humanitären Pflicht“ (FT 262) erklärt.
Geht man davon aus, dass Päpste und Konzilien die Lehre der Kirche formulieren, ist folgende Schlussfolgerung unausweichlich: Der Katechismus steht in friedensethischer Hinsicht in Widerspruch zur derzeit geltenden, durch das Zweite Vatikanische Konzil vorgetragenen und durch den amtierenden Papst wiederholten Lehre der katholischen Kirche. Dass der Papst – anders als noch 2018 mit Blick auf die Ächtung der Todesstrafe – es nach seiner Enzyklika Fratelli tutti nicht einmal mehr für nötig hielt, den Katechismus so zu ändern, dass diese Dissonanz aufgelöst wurde, ist vielleicht ein Hinweis auf die Bedeutung, die Franziskus dem Katechismus beimisst.
Was heißt das für andere Themenbereiche? Der Katechismus, so sein „Prolog“, werde als „Arbeitshilfe angeboten“ (KKK 12). Angebote kann man zurückweisen. Der Papst hat dies mit Blick auf den Katechismus bereits mehrfach getan. Gute Katholiken sollten nicht päpstlicher sein als der Papst.
Über Michael Seewald
Michael Seewald, geboren am 13. Juli 1987, lehrt als einer der jüngsten Professoren Deutschlands in einer geisteswissenschaftlichen Disziplin Dogmatik und Dogmengeschichte an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Im Verlag Herder erschien von ihm unter anderem das Buch „Reform – Dieselbe Kirche anders denken“ (2019).