Nein, mangelndes Selbstbewusstsein kann man Rainer Maria Schießler nicht vorwerfen. Mit der „Schießler-Bibel“ hat der Münchner Pfarrer und Medienprofi nicht nur eigene Kommentare zur Heiligen Schrift vorgelegt, auch sein Gesicht auf dem Cover wirkt geradezu ikonisch. Im Profil, den Blick nach oben, erinnert er an einen modernen Propheten, der eine Eingebung erhält. Das mag man selbstbezogen finden, doch es ist auch ein Versprechen: Wo Schießler draufsteht, ist Schießler drin!
Und tatsächlich herrscht von der ersten Seite an der lockere, alltagsnahe Plauderton, der den Pfarrer bekannt gemacht hat. So fragt er sich an einer Stelle, wie es wohl ausgegangen wäre, wenn Maria und Josef ihren Sohn damals aus dem Tempel geschleift hätten, als der zwischen den Gelehrten Platz genommen hatte. In diesem Fall wäre aus Jesus „wohl nur ein weiterer entmutigter, lustloser junger Mann“ geworden, mutmaßt Schießler. Und die zentrale theologische Frage im Galaterbrief, wer zur Gemeinschaft der Gläubigen zählt, steht bei ihm unter dem Motto: „Ene, mene, muh, und raus bist Du!“.
Formal bleibt das Buch dabei eng an der Leseordnung des Kirchenjahrs. Wer will, kann sich so durchs Jahr führen lassen. Doch die „Schießler-Bibel“ lädt auch zum freien Blättern und Stöbern ein. Anknüpfungspunkte finden sich viele, die Texte sind knapp und immer gut lesbar. Auf eine kurze Bibelstelle folgt eine Auslegung, meist weniger als eine Seite lang. Hier gibt Schießler eigene Interpretationen, zitiert Bischöfe und Gelehrte – am einprägsamsten wird es aber, wenn er die bekannten Passagen auf Alltagsgeschichten herunterbricht. Auf kurze Augenblicke, in denen das Wirken Gottes spürbar wurde, im Großen wie im Kleinen. Etwa im Leben einer indischen Ärztin, die nach einem eigenen schweren Unfall all ihre Energie in neue Therapieansätze steckte. Oder ein Abschnitt über den letzten weißen Präsidenten Südafrikas, der sich nach Jahrzehnten der Feindschaft doch überzeugen ließ, Nelson Mandela in seinem Kampf gegen den Rassismus zu unterstützen. Man muss kein Heiliger sein, um Jesus nachzufolgen, so die optimistische Botschaft. Jeder kann hier und heute damit anfangen: „Die ersten Jünger waren Menschen wie wir.“
Wie Nachfolge genau aussieht, lässt Schießler übrigens offen. „Wir dürfen es uns gegenseitig ruhig eingestehen“, schreibt er in seiner Besprechung des Matthäusevangeliums. „Niemand kann sagen, was Gott in der heutigen Situation wirklich von uns fordert. Wir sind alle immer auf der Suche und finden den Weg nur dann, wenn wir gemeinsam aufeinander hören.“ In Zeiten einer tobenden Reformdebatte sind das wohltuend ausgleichende Worte von Schießler, der sich selbst immer wieder für Neuerungen und mehr Offenheit ausgesprochen hat. Vielleicht sind diese stilleren, nachdenklichen Passagen die wahre Stärke des Buches.