Wo bläst er bloß, der Heilige Geist? Man sieht ihn nicht. Man packt ihn nicht. Will man es mit der dritten Person der Heiligen Dreifaltigkeit zu tun bekommen, ist das, als wollte man eine kräftige Böe oder wahlweise ein laues Lüftchen festhalten. Die Theologen scheinen das zu spüren. Jedenfalls haben sie in den vielen Jahrhunderten ihres eifrigen Publizierens verhältnismäßig wenig über Gott-Geist geschrieben.
Sicher, Gott-Vater, den Schöpfergott, sieht man auch nicht. Aber er ist der Urgrund allen Seins und Sinns, der Ausgangspunkt religiösen Denkens. Und der Christus hat als Gott-Sohn wie ein Mensch gelebt – zum Anfassen. Aber der Geist, der an Pfingsten über die Jünger kam, wie es in der Apostelgeschichte heißt? Der setzt irgendwie das Wirken Jesu fort und ist das Lebensprinzip der Christen, bis die Schöpfung an ihr gutes Ende kommt. Letztlich weht er allerdings, „wo er will“ (Joh 3,8). Also vielleicht überall, vielleicht auch nirgendwo – diffus, vage, man weiß es nicht. Was soll man schon groß über den Geist sagen, ja, wofür „braucht“ man ihn eigentlich? Ein nicht unbekannter aufstrebender und begabter Dogmatiker einer deutschen Universität ist in Theologen-Kreisen bekannt für seinen Ausspruch, er könne mit dem Heiligen Geist „nichts anfangen“. Und eine Größe wie Emil Brunner hat 1951 geschrieben, der Geist sei „immer mehr oder weniger ein Stiefkind der Theologie gewesen“.
Ein Geist schreibt Geschichte
Jörg Lauster ist evangelischer Theologe an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Er kennt die Ratlosigkeit nicht weniger seiner Kolleginnen und Kollegen, wenn es um den Heiligen Geist geht. „Wie bist du bloß darauf gekommen?“, wird der Dogmatiker gefragt, wenn er von seinem neuen Buch erzählt. Lauster hat nämlich ganze 430 Seiten über das im wahrsten Sinn des Wortes windigste Thema der Theologie gefüllt: Er hat dem Heiligen Geist eine Biografie gewidmet.
Das macht die Sache nun noch verzwickter. Eine Lebensbeschreibung dieses unsichtbaren Brausens in der Welt? Jörg Lauster gefiel die Idee. „Eine Biografie ermöglicht es, Entwicklungen zu beschreiben“, sagt er im Gespräch. Biografen erzählen Geschichten aus dem Leben, wenn man so will. Und geht es nach Lauster, ist die Welt voll von Geschichten des Heiligen Geistes. In der dritten Person der Dreifaltigkeit sieht er eine Denkform, um das Göttliche in Raum und Zeit und Welt und Kirche anschaulich werden zu lassen. Angefangen beim Denken Israels, das den Geist Gottes in der noch jungen Schöpfung bereits schemenhaft „über dem Wasser“ schwebend glaubte (vgl. Gen 1,2), entwickelt Lauster seine Vorstellung des Heiligen Geistes als treibender Kraft aller Zivilisation, etwa in der Theologie, aber auch in der Literatur und Musik, in der Architektur, in der Geistesgeschichte insgesamt, ja im Universum. Seine Geist-Biografie ist ein kursorischer Blick auf die Geschichte, genauer gesagt: auf ihre Höhepunkte und Sternstunden – und das unter dem Vorzeichen, dass sich in ihnen das Rauschen des Heiligen Geistes immer weiter entfaltet. „Die Ideale, Kräfte und neuen Weltsichten, die durch den Geist in Menschen einfließen, verbleiben nicht im Innern der Menschen. Sie treten ein in die sozialen Zusammenhänge, in denen Menschen leben.“ Und so schreibe der Geist im wahrsten Sinne des Wortes Geschichte. Die biografische Herangehensweise lässt Lauster auch dem Anspruch entkommen, den Heiligen Geist im Sinne einer klassischen „Pneumatologie“ – so der Fachbegriff für das Nachdenken über den Geist – als geschlossene Lehre systematisch abhandeln zu müssen. Seinen Ansatz nennt der Dogmatiker vielmehr eine „historische Kultur-Pneumatologie“. Er will zeigen, „wie vielfältig die Präsenz des Geistes im Laufe der Geschichte erfahren werden kann“.
Das Wirrwarr der Dreifaltigkeit
Jörg Lauster sieht das zum Beispiel beim Blick auf Entwicklungsphasen der Christenheit. „Es gab immer so etwas wie eine Frontstellung zwischen dem Heiligen Geist und der Institution Kirche“, sagt er. „Alle Reformbewegungen beriefen und berufen sich mehr oder weniger auf ein Wehen des göttlichen Geistes, das die Institution davor bewahrt, in sich zu erstarren.“ Es brauche zwar die Institution mit ihrer Ordnung, davon ist Lauster überzeugt, aber eben auch die Unruhe und Weite des Geistes. In der Rückschau sei es doch beachtlich, wie dieser als Motor die Theologie vorangetrieben habe – etwa im vierten und fünften Jahrhundert. „Man muss sich das einmal vorstellen, was zu dieser Zeit für ein Wirrwarr unter den Glaubensparteien der Christen herrschte.“ Immerhin ging es auf den Konzilien zwischen Nizäa 325 und Chalcedon 451 ja um so große Fragen wie: Was heißt das eigentlich, dass Jesus Gottes „Sohn“ ist? Und was bedeutet es, dass Jesus „ganz Gott“ und „ganz Mensch“ ist? „Irgendwie ist es damals gelungen, großartige Gedanken in Dogmen zu gießen“, sagt Lauster, der darin beispielhaft erkennen will, wie der Heilige Geist im Laufe des Kirchengeschichte Gestalt angenommen hat. Tatsächlich gelten die Dogmen der frühen Kirche noch heute unbestritten und praktisch für alle Christen, zudem geben sie uns aufgrund ihrer inneren Weite nach wie vor zu denken.
Den Heiligen Geist als eine so zuverlässig zielführende Triebfeder für Lehre, Ämter und Sakramente zu sehen, mag aber auch ein wenig hemdsärmelig daherkommen. Bei der Klärung theologischer Sachverhalte war es ja immer auch entscheidend, wer gerade Kaiser oder König war oder welcher Bischof beim Monarchen gut angeschrieben war. Oder waren auch diese allesamt einbezogen in das Wehen des Geistes, im Sinne eines Weltgeistes, wie ihn Hegel beschreibt? Und was ist mit den innerkirchlichen Grabenkämpfen heute? Oder, flapsiger gesagt: Wer hat den Heiligen Geist auf seiner Seite? Immerhin liefert Lauster dafür ein Kriterium, das er auf Paulus zurückführt. „Der Geist schafft Einheit“, sagt er. Wo Einheit bestehen bleibt oder eine umfassendere Einheit geschaffen wird, da wirke Gottes Geist. Wer mag, kann diesen Gedanken ja einmal anwenden auf die Frage nach der wechselseitigen Einladung zu Eucharistie und Abendmahl. Oder auf die Bewegung „Maria 2.0“.
Geist schafft Einheit
Die stärksten Partien in Lausters lesenwertem Buch sind jene, in denen er das Wirken des Geistes jenseits von Priestern und Propheten nachzeichnet. Voll Bewunderung beschreibt er den Renaissance-Intellektuellen Marsilio Ficino, der im 15. Jahrhundert am Hof der Medicis lebte. Lauster sieht Ficino als Türöffner, um das Wirken des göttlichen Geistes in der Kultur zu beschreiben. Wer mag, kann in Ficinos Werk eine Versöhnung von Gottes Macht mit der Freiheit des Menschen erkennen. „Der Geist ist ein Funken des göttlichen Lichts in uns“, beschreibt Lauster Ficinos Denken. Ein schöner Gedanke: Das Göttliche fließt über die Vernunft in uns hinein und manifestiert sich dadurch punktuell auch in der Welt des Materiellen, im real Gegebenen. Man merkt, dass im Hintergrund eine platonische Philosophie steht, die heute natürlich nicht mehr einfach so plausibel ist.
Göttliche Symmetrie
Doch kann Lauster damit erklären, warum etwa Architekten seiner Meinung nach in der Lage sind, Visionen des göttlichen Raums nachzubilden, wie etwa Andrea Palladio mit seinen Renaissance-Kirchenfassaden im Venedig des 16. Jahrhunderts. Oder warum Musikstücke einen „vor religiöser Ehrfurcht dahinschmelzen lassen können“, wie Lauster sagt. Oder warum ein Schriftsteller wie Christoph Ransmayr ihn schreibend etwas „Geheimnisvolles“ erahnen lässt, das die sichtbare Welt übersteigt. Klar, es ist immer sehr subjektiv, wo man im Alltag das Göttliche findet, das gesteht Lauster selbst ein. So beschreibt er die Palladio-Fassaden in Venedig zum Beispiel als etwas Transzendentes und nutzt dabei Worte wie „vollendete Harmonie, Symmetrie, Ebenmäßigkeit“. Sicher würde nicht jeder das Göttliche so beschreiben. Sympathisch ist allerdings, dass der Autor nicht der Versuchung erliegt, Kultur und Ideengeschichte zu Dienerinnen der organisierten Religion oder gar zur Missionierung zu verzwecken. Insgesamt bleibt jedoch etwas unterbelichtet, wie man die Tiefpunkte der Menschheitsgeschichte denken soll, wenn die Geschichte nach Lauster im Großen und Ganzen doch im Geist zum Guten geführt wird. Auch wenn der Autor keine durchstrukturierte Geist-Lehre vorlegen will, drängen sich einem Fragen auf. Wo endet der Geist, wo wird es fanatisch? Wo war der Geist in Auschwitz?
Und doch ist Jörg Lausters Grundaussage wichtig: Christen, haltet Augen und Ohren offen! Der Geist pustet längst nicht nur innerhalb von Kirchenmauern und in der eigenen Konfession. Er bricht überall durch, zieht an, reißt empor. Zudem verbreitet der Autor eine gehörige Portion Zuversicht – gegen alle allzu von sich selbst eingenommenen Kulturpessimisten. Diese Biografie macht Lust, dranzubleiben an den schwierigen, manchmal nervigen Debatten der Gegenwart, etwa beim Klimaschutz und beim Gendern. Weil – so könnte man Lauster frei interpretieren – unter anderem mit diesen Fragen, so ungewiss die Antworten jetzt noch seien mögen, wohl ein weiterer Sprung des menschlichen Geistes ansteht. Wo auch immer er gerade weht: Dem Heiligen Geist sei es gedankt.