Rezension zu Gunter Prüller-Jagenteufel / Wolfgang Treitler: Verbrechen und Verantwortung. Sexueller Missbrauch von Minderjährigen in kirchlichen Einrichtungen.Kirche zum „safe space“ machen

Missbrauch und kein Ende? Ein Schwerpunkt in diesem Bücherfrühling sind Titel, die sich mit der geistlichen und sexuellen Gewalt in der Kirche auseinandersetzen.

Im Wintersemester 2019/20 veranstaltete die katholisch-theologische Fakultät der Universität Wien eine viel beachtete Ringvorlesung zum Thema sexualisierte Gewalt innerhalb der katholischen Kirche. Die wichtigsten Beiträge dieser hochkarätig besetzten und mit einem Grußwort von Papst Franziskus sowie einem Geleitwort des Wiener Kardinals Christoph Schönborn versehenen Veranstaltungsreihe haben nun die Theologen Wolfgang Treitler und Gunter Prüller-Jagenteufel zu einem sehr lesenswerten und wegweisenden Sammelband zusammengefügt. Ziel des Buches ist es, sowohl den Missbrauchsverbrechen als auch den mitursächlichen, missbrauchsbegünstigenden theologischen und strukturellen Verantwortlichkeiten auf den Grund zu gehen und die sich daraus ergebenden notwendigen Konsequenzen für Theologie, Kirche und Prävention aufzuzeigen.

Als der Vielschichtigkeit und Komplexität der Missbrauchsproblematik besonders angemessen erweist sich der interdisziplinäre und multiperspektivische Ansatz des Buches: So werfen in den ersten beiden Teilen des Buches Hubert Wolf als Kirchenhistoriker und Klaus Mertes mithilfe der jesuitischen Methode der Unterscheidung der Geister einen kritischen Blick auf die systemischen Zusammenhänge des Missbrauchs. Der Jesuit Ansgar Wucherpfennig nimmt, basierend auf einer profunden biblischen Exegese, eine klare Differenzierung von Homosexualität und Pädosexualität vor. Und Damian Miller zeigt am Beispiel der Odenwaldschule eindrucksvoll die gefährlichen Dynamiken von „heiligen Institutionen“ auf. Johann Pock unterzieht die Priesterausbildung einer kritischen Revision, macht sich für eine Erneuerung einer Theologie des Amtes stark und bietet zudem einen guten Überblick über die aktuellen wissenschaftlichen Publikationen zum Thema Theologie und Missbrauch.

Während in den ersten beiden Teilen des Buches vor allem problematische Strukturen, toxische theologische Denkmuster und deren Reformbedarf aufgezeigt werden (weshalb der Sammelband auch in der Reihe „Theologie im Umbruch“ hervorragend aufgehoben ist), bietet der dritte Teil hilfreiche Anleitungen für einen sensiblen Umgang mit Betroffenen sowie für eine wirksame Prävention: Ausgehend von ihrem Anliegen, die Schulen zu „safe spaces“ für Kinder und Jugendliche werden zu lassen, legt Andrea Lehner-Hartmann die wirksamen Möglichkeiten traumapädagogischen Handelns dar, die auch für den kirchlichen Bereich große Relevanz besitzen.

Unverzichtbar: Betroffene selbst müssen zu Wort kommen

Und auch Mary Hallay-Witte vom „Institut für Prävention und Aufarbeitung von sexualisierter Gewalt“ macht am Beispiel des „shimmering moment of disclosure“ (Ann Cahill) – des Moments des Sich-Anvertrauens – deutlich, wie wichtig und idealerweise heilsam ein betroffenensensibles Verhalten seitens der Institution Kirche ist. Hans Zollner vollendet den Sammelband mit einem genaueren Einblick in die Präventionsarbeit der letzten Jahrzehnte und in die Arbeit des „Centre for Child Protection“.

Ein Beitrag, der an dieser Stelle besondere Erwähnung finden soll, ist der Text des Fundamentaltheologen Wolfgang Treitler, der mit erschütternden Worten die missbrauchsinduzierte Gotteskrise hinter der Kirchenkrise sichtbar macht und der für eine „Gott im Nichts“-Theologie plädiert. Die beklemmende und aufrüttelnde Wirkung seiner Worte, aus denen auch eigene Missbrauchserfahrung spricht, zeigt wieder einmal, wie unverzichtbar es ist, nicht nur über sexualisierte Gewalt zu reden, sondern auch Betroffene selbst zu Wort kommen zu lassen. Ein Mehr an solchen Zeugnissen hätte den multiperspektivischen Ansatz des Sammelbandes noch vollumfänglicher gemacht und der Botschaft des Buches noch mehr Vehemenz verliehen.

Insgesamt stellt „Verbrechen und Verantwortung“ ein äußerst empfehlenswertes, fundiertes, facettenreiches und wegweisendes Kompendium dar, das sämtlichen Verantwortlichen in Kirche, Theologie, Pädagogik und Prävention ans Herz gelegt sei. Es zeigt zudem klar und deutlich, dass es sich bei den Forderungen nach Reformen und Kulturwandel eben nicht um „Missbrauch des Missbrauchs“ handelt – sondern vielmehr um das dringend notwendige Bestreben, die Kirche in Zukunft wieder zu einem „safe space“ für die ihr anvertrauen Kinder, Jugendlichen und Erwachsenen zu machen.

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Prüller-Jagenteufel, Gunter / Treitler, Wolfgang (Hg.)

Verbrechen und VerantwortungSexueller Missbrauch von Minderjährigen in kirchlichen Einrichtungen

Verlag Herder, Freiburg 2021, 256 S., 26 €

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