Nordirland-KonfliktKeine Gretchenfrage

Nicht nur in Belfast, auch anderswo in Nordirland sind Jugendliche in den vergangenen Wochen lautstark auf die Straßen gegangen. Doch blieb es nicht bei Sprechchören, auch Busse wurden in Brand gesetzt. Einige sehen schon den alten „Glaubenskrieg“ zwischen Katholiken und Protestanten wieder aufflammen. Dabei verstellt dieser Begriff den Blick auf die wahren Probleme.

Seit Jahren musste die Polizei erstmals wieder Wasserwerfer einsetzen, um die Randalierer einzuhegen. Diese waren vor allem junge Protestanten, die sich zu den „Unionisten“ rechnen, die ihre Identität vor allem auf die enge politisch-kulturelle Bindung der sechs Grafschaften Nordirlands an das Vereinigte Königreich gründen. Was steckt hinter den jüngsten Ausschreitungen?

Den Nationalisten ausgeliefert?

Es war wohl auch die Beerdigung von Bobby Storey, die bereits im Juni vergangenen Jahres stattfand. Storey war Mitglied bei der Irish Republican Army, einer Gruppe, die in ihren schlimmsten Zeiten mit Terror und Blutvergießen für eine vereinigte Republik Irlands gekämpft hat. Er steht symbolisch für den irisch-katholischen Trotz gegen das Vereinigte Königreich, gegen jedwede Abhängigkeit Nordirlands von 10 Downing Street.

Trotz der Corona-Einschränkungen haben mehr als tausend Menschen an Storeys Beisetzung teilgenommen. Erlaubt gewesen wären nur einige Dutzend. Viele pro-britische Protestanten haben sich enorm darüber aufgeregt, dass niemand eingegriffen hat. Sie sehen sich dadurch in ihrem vagen Gefühl bestätigt, diffusen Ressentiments katholischer Nationalisten zunehmend schutzlos ausgeliefert zu sein. Die jungen Leute, die in Belfast Busse in Brand gesetzt haben, fürchten um ihre Anerkennung auf der grünen Insel. Als Erwachsene wollen sie später keine zweitklassigen Bürger sein, wollen selbst über ihr Schicksal entscheiden können.

Worum es wirklich geht

Mit herbeigeführt hat diese Sorgen auch der britische Premierminister Boris Johnson. Sein Brexit-Vertrag mit Brüssel sieht zwischen der irischen Insel und der britischen Insel eine Handelsgrenze vor. Immer mehr Nordiren, die eigentlich stolz auf ihre Zugehörigkeit zum Vereinigten Königreich und zur protestantischen Königin sind, fühlen sich da vergessen und verraten. So als wäre diese wichtige Entscheidung über ihre Köpfe hinweg gefallen. Die Zuordnung der nordirischen Konfliktparteien in Katholiken und Protestanten mag als äußerer Marker zwar passen – doch suggeriert sie, es gehe hier um einen Glaubenskrieg. Dabei ist der Konflikt anderer Natur: Es geht um gesellschaftliche Anerkennung, um nationale Symbole, um das Gefühl, Ire oder Brite zu sein.

Praktizierte christliche Religion ist auf beiden Inseln längst auf dem Rückzug, die breite Masse ist innerlich säkular orientiert. Um den scheinbar wieder fragileren Frieden in Irland zu bewahren, sollte man religiöse Begriffe aus dem Spiel lassen.

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