Wallfahrt digitalLourdes absurd

Kann man in Zeiten der Kontaktbeschränkungen einen Wallfahrtsort neu für sich entdecken – rein digital? Etwa das weltbekannte Lourdes? Ein Selbstversuch.

Ein Donnerstag Ende Mai, es ist Marienmonat und ich gehe auf Wallfahrt nach Lourdes. Jetzt bin ich aber noch in Augsburg. Obwohl, das stimmt nicht so ganz. Ich bin in Freiburg, in meiner Wohnung, und starre auf meinen Laptop. Gerade merke ich, wie ich schon wieder die Augen zusammenkneife. Das passiert mir oft, wenn ich zu lange vor dem Bildschirm sitze. Neben dem Laptop dampft schwarzer Kaffee, auf meinem Handy ploppen WhatsApp-Nachrichten auf, ich trage Pantoffeln. Ich bin auf einer Online-Wallfahrt, organisiert vom Bayerischen Pilgerbüro und dem Bistum Augsburg. Ob die gut wird? Stärkend? Erhebend? Nachdenklich machend? Auslaugend, wie eine echte Wallfahrt? Und wie komme ich wohl in den Südwesten Frankreichs, ins berühmte Lourdes an den Ausläufern der Pyrenäen? Auch wenn es rein digital zugehen wird, werden die Veranstalter sich doch etwas ausgedacht haben, um den Pilgerweg irgendwie abzubilden, zu simulieren?! Auf meine Fragen habe ich jetzt noch keine Antwort. Jedenfalls startet meine erste Lourdes-Wallfahrt mit einem YouTube-Livestream aus der bischöflichen Hauskapelle in Augsburg – wer hätte das gedacht? Ich bin gespannt.

Neben dem Laptop dampft schwarzer Kaffee, auf meinem Handy ploppen WhatsApp- Nachrichten auf, ich trage Pantoffeln. Ich bin auf einer Online-Wallfahrt.

Sie strahlt im Tugendkleide, kein Engel gleichet ihr; die Reinheit ihr Geschmeide, die Demut ihre Zier, ein Blumengart, verschlossen, mit Himmelstau begossen, so blüht sie für und für. Das singt der Musiker und spielt dazu auf einer kleinen Orgel. Sie, das ist natürlich Maria. Es ist die dritte Strophe eines Klassikers, zu finden im Gotteslob unter Nummer 531. Die vier Messbesucher und Bischof Bertram Meier singen natürlich nicht mit, wie es in Corona-Zeiten derzeit noch vorbildlich und korrekt ist. Aber ich denke gerade: Was für ein Text! Wenn jetzt im echten Leben Wallfahrt wäre und man das Lied mit Hunderten Mitbeterinnen singen würde, am besten mit rauschender Orgel und eingehüllt in Schwaden von Weihrauch, dann wären die Worte mir gar nicht richtig aufgefallen. Obwohl die es ja wirklich in sich haben. Maria ist also ein verschlossener „Blumengart“ – das meint wohl, dass sie sexuell unberührt ist – und diese „Reinheit“ ist ihr „Geschmeide“. So blüht sie vor sich hin, „mit Himmelstau begossen“. Das klingt nicht nur alles ziemlich altmodisch, sondern transportiert auch ein Frauenbild, mit dem wohl nur die wenigsten noch etwas anfangen können, ob gläubig oder nicht. Maria, die „schönste aller Frauen“ (zweite Strophe), die hier als irgendwas zwischen anmutig, demütig und verhuscht besungen wird, ist sicher nicht die Maria 2.0, von der einige Frauen und Männer aus Münster – und mittlerweile aus ganz Deutschland – in letzter Zeit so viel reden. Auch frage ich mich jetzt, ob es eigentlich nur Marienlieder gibt, die gefühlt vierhundert Jahre alt sind. Wie dem auch sei: Katholiken singen das eben so, und die meisten machen das sicher immer noch voll Inbrunst. Vielleicht liegt das auch daran, dass sie noch nie über den Text nachgedacht haben. Marienlieder sind eben die Schlager unter den Kirchenliedern.

Bischof Meier spricht langsam, achtet auf jede Silbe. Etwas künstlich klingt das, aber er will wohl nur sichergehen, dass man ihm im Internet gut folgen kann. Kirche ist niemals eine virtuelle Gemeinschaft, sagt er. Wie recht er doch hat. Jetzt gelte es aber, aus der Not eine Tugend zu machen. Immerhin geht es für zwei Pilgerinnen leibhaftig nach Lourdes: Irmgard Jehle und Christina Ringer vom Bayerischen Pilgerbüro werden noch heute Abend mit der Pilgerkerze nach Lourdes fliegen, „stellvertretend für uns“, wie der Bischof sagt. Im Gepäck haben sie auch Zettel mit Gebetsanliegen der Digital-Pilger. Der Rucksack, den Bertram Meier mir am Laptop entgegenstreckt, quillt allerdings nicht gerade über vor Briefen an die Gottesmutter. Er ist eigentlich recht dünn.

Mittlerweile wird die Lesung vorgetragen. „Der Höchste hat Kenntnis von allem, bis in die fernste Zeit sieht er das Kommende“, heißt es im Buch Jesus Sirach (42,18). Ob es bald wieder Wallfahrten, ja überhaupt kirchliches Leben geben wird, wie wir es vor der Pandemie gewohnt waren? Kommen die Leute zurück, die aus Selbst- und Fremdschutz seit Monaten nicht mehr in der Kirchenbank gesessen haben?

© privat
© privat
© privat

Während der Predigt erinnere ich mich an das, was ich in den letzten Tagen über die Lourdes-Wallfahrt gelesen habe. Alles begann mit einer Reihe wundersamer Ereignisse im Jahr 1858. Damals war Friedrich Wilhelm IV. König von Preußen und Pius IX. Papst. Dieser verkündete das Dogma der „unbefleckten Empfängnis“ Mariens, das in direkter Verbindung zu Lourdes steht. Die Geschichte geht grob gefasst so: Am 11. Februar 1858 will Bernadette Soubirous, eine damals 14 Jahre alte Schafhirtin und Tochter eines Müllers, in einer Grotte bei Lourdes am Ufer der Gave eine „schöne weiße Dame“ erkannt haben, die sich ihr als die „unbefleckte Empfängnis“ offenbarte. Dass es sich dabei ihrer Ansicht nach um die Jungfrau Maria handelte, erzählte Bernadette erst später. Insgesamt soll sie 18 solcher Erscheinungen erlebt haben, die letzte war am 16. Juli desselben Jahres.

Maria habe ihr aufgetragen, an der Grotte eine Kirche zu bauen und das Quellwasser zu trinken, das in der Grotte entsprungen war, berichtete Bernadette. Und, das ist wohl das Entscheidende: Die Jungfrau habe ihr offenbart, dass das Wasser heilende Kräfte habe. Kurze Zeit später soll es zur ersten „Wunderheilung“ gekommen sein. Louis Bouriette, ein erblindeter Bergmann, konnte wieder sehen, nachdem er eine Kompresse mit Schlamm und Quellwasser auf sein blindes Auge gelegt hatte. Das ist wohl der definitive Gründungsmythos von Lourdes, wie man es heute kennt. Rasch wurde das Ganze zum Selbstläufer. Weitere spontane Gesundungen folgten, und vier Jahre später erkannte der Vatikan die erste Heilung an, beglaubigte sie gewissermaßen offiziell. Dafür gibt es sogar ein eigenes Prozedere, welches Papst Benedikt XIV. bereits im 18. Jahrhundert festlegte. Es sind gewissermaßen die sieben Kontrollkästchen, die die vatikanischen Behörden abhaken müssen, damit man von einer religiösen „Wunderheilung“ sprechen kann:

1. Die geheilte Krankheit muss unmöglich oder nur äußerst schwer heilbar gewesen sein.

2. Der oder die Geheilte darf nicht schon auf dem Weg der Besserung gewesen sein.

3. Es dürfen keine Medikamente im Spiel gewesen sein – wobei etwa im Fall von Lourdes das Quellwasser natürlich nicht als „Medikament“ gilt.

4. Die Heilung muss spontan passiert sein, also von einem Moment auf den anderen.

5. Die Heilung muss vollständig sein.

6. Der Patient / Die Patientin darf vor der Heilung in keiner akuten seelischen Krise gewesen sein.

7. Es darf nach der Heilung keinen Rückfall geben.

Doch wie gesagt: Das Phänomen „Lourdes“ hat sich schnell verselbstständigt, ohne dass man weitere langwierige Prüfungen aus Rom abwartete. Bald traf ein erster Zug voller Pilger in Lourdes ein, alle wollten zur Grotte mit dem heilenden Wasser. Um die 7000 Heilungswunder sollen bis heute dort stattgefunden haben. Rein wissenschaftlich überprüft hat das niemand, die Kirche hat bis jetzt lediglich rund 70 davon anerkannt. Übrigens ist laut Katechismus keine Katholikin, kein Katholik verpflichtet, an die Heilungen von Lourdes zu glauben. Marien-Erscheinungen zählen in der Kirche zu den sogenannten „Privatoffenbarungen“. Funktioniert Lourdes vielleicht nach dem Prinzip „Alles kann – nichts muss“? Das wäre mir irgendwie sympathisch.

© Jean-Matthieu Gautier/CIRIC/KNA

Vor der Pandemie kamen jährlich geschätzt sechs Millionen Pilgerinnen und Pilger aus aller Welt in den kleinen Ort nahe der spanischen Grenze, darunter zehntausende kranke und sehr alte Menschen, auch viele, die mit einer Behinderung leben. Wissenschaftlich ist die Lage übrigens ganz und gar eindeutig. Die über 120.000 Liter Wasser, die Tag für Tag aus der heiligen Quelle in Lourdes sprudeln, sind chemisch völlig unspektakulär. Es handelt sich um normales Trinkwasser, das nicht einmal irgendwelche besonderen Mineralien oder Spurenelemente in sich trägt. Dennoch füllen die Menschen das eiskalte Wasser in Kanister und Fläschchen ab, baden darin, besprenkeln sich damit.

© KNA-Bild

Ja, so ist das eben mit Lourdes: Für die einen ist es Aberglaube, ja eigentlich nur eine Profitmaschine für den Klerus und die lokale Wirtschaft – für die anderen ist es ein geradezu magischer Ort, den man um jeden Preis aufsuchen will. Der britische Historiker David Blackbourn meint, in Lourdes weitere Marien-Erscheinungen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts schematisch vorgebildet zu sehen. Das Muster, das Blackbourn erkannt haben will, beinhaltet eine einfache, arme Frau, die es im Leben schwer hat, eine fromme Botschaft an sie, ein Element der Heilung und der anschließende Bau einer Kirche, dazu eine gewisse Skepsis durch das unmittelbare Umfeld der Seherin, verbunden mit plötzlichen „Wunderheilungen“ und bald darauf einer ersten Anerkennung durch die Kirche. Tatsächlich lässt sich so ein Schema auch bei anderen bekannten Marien-Erscheinungen und Wallfahrtsstätten erkennen, etwa bei Fátima in Portugal sowie bei Beauraing und Banneux in Belgien. Und so sinne ich noch eine Weile nach über Spontanheilungen, Scharlatane und stickige Pilgerzüge voller Bettlägeriger.

Bischof Bertram Meier von Augsburg deutet unsere Digital-Pilgerfahrt indes anders: „Die Erfahrung, die ich in Lourdes immer wieder machen darf, deckt sich mit den Erlebnissen zahlreicher anderer Pilger. Das eigentliche Wunder von Lourdes sind nicht leibliche, körperliche Heilungen. Sondern es ist die Erfahrung einer Kirche als Solidargemeinschaft.“ Die Kranken, Gebrechlichen, Einsamen und Alten stehen in Lourdes im Mittelpunkt. Sie werden von den gesunden Pilgern zu den Quellen getragen, umsorgt, bei der abendlichen Lichterprozession in blauen Ziehwagen mitgenommen. Einige kommen jedes Jahr, seit 25 Jahren. Gesunde und Kranke ziehen gleichermaßen Trost aus ihren Fahrten. „Lourdes kann man nicht erklären, man muss es erleben“, sagt mir jemand. Mir dämmert, dass meine digitale Lourdes-Wallfahrt eine echte Reise dorthin wohl nicht ansatzweise ersetzen wird. Und mir bleibt das ein wenig fremd: Sollten unsere Kranken nicht vielmehr in einer solidarischen Gesellschaft leben, anstatt einmal im Jahr an einen Ort gekarrt zu werden, an dem sie ein paar Tage im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen?

Tag 3 meiner digitalen Wallfahrt. Wir sind bereits seit zwei Tagen in Lourdes, zumindest in unserer Vorstellung, also geistig, das hat der Bischof vorgestern in seinem abendlichen YouTube-Impuls betont. Aus Augsburg, wohlgemerkt. Es gab mittlerweile einige Internet-Übertragungen aus dem französischen Pilgerort, Messen und Rosenkranzgebete. Ich merke aber, dass bei mir nichts ankommt. Das liegt sicher auch daran, dass ich dieses leibhaftige Lourdes-Erlebnis, von dem immer alle reden, einfach nicht kenne. Die Livestreams lösen nichts in mir aus. Jetzt bin ich aber neugierig auf die Zeugnisse von Wallfahrtsteilnehmern, die nun gesendet werden. Leider wieder nur aus Augsburg. Aber vielleicht werde ich heute ein wenig mehr verstehen über die Sache mit der Grotte und dem Quellwasser.

Alfred Festl aus Neusäß war 1980 zum ersten Mal in Lourdes. Ihm ist aufgefallen, dass die Kranken „mit ihrem eigenen Schicksal immer zufriedener geworden sind“, als sie dort gesehen haben, was es an Leid und Krankheiten auf der Welt sonst noch gibt. „Da merkt man dann, wie das eigene Leid kleiner wird.“ Andere erzählen Ähnliches. „Man sieht, wer noch alles sein Kreuz zu tragen hat.“ Schwere Gedanken sind das, finde ich. Die anderen, denen es schlechter geht als mir selbst, werden mir zum Trost?

Pfarrer Ralf Czech aus Sontheim erzählt von seiner ersten Lourdes-Wallfahrt in den 2000er-Jahren, da hatte er gerade seinen Abschluss in Theologie in der Tasche. „Kurz nach der Uni, da ist man ja sehr auf wissenschaftliches Denken gedrillt, da war ich auch ein bisschen skeptisch. Aber wenn man dann in diesen heiligen Bezirk reinkommt, das ist wie ein Eintritt in eine andere Welt.“ Als „heiligen Bezirk“ bezeichnen die Wallfahrer den Bereich rund um die Grotte mit den Andachtsstätten und einem Krankenhaus. Czech erinnert sich: „Da ist dann plötzlich alles ruhiger, langsamer. Man merkt, es tut einem selber enorm gut.“ Warum ist das so? Ist Gott einem dort näher als sonstwo? „Gott ist überall“, sagt Czech. „Das Entscheidende ist: Wo bin ich ganz da? Wo bin ich nicht schon viele Schritte voraus im Denken, sondern wo bin ich da? Wenn ich in diesen heiligen Bezirk gehe, dann kann ich so richtig da sein. Da ist nichts anderes wichtig.“ Hildegard Endres aus Memmingen sagt, es fühlte sich in Lourdes einmal an, als sei sie „geschwebt“. Mittlerweile leitet sie selbst Pilgerfahrten. Unvergesslich sind für sie immer die zufriedenen Gesichter der Pilger auf der Rückreise.

Entweder fahre ich dort ganz bald einmal selbst hin, am besten mit einer Gruppe – oder ich beschäftige mich nicht weiter damit. Lourdes am Laptop, das erscheint mir, der ich noch nie leibhaftig dort war, jedenfalls absurd.

Hier breche ich meine digitale Wallfahrt ab. Lourdes ist für mich in den letzten Stunden zu einer Entweder-oder-Angelegenheit geworden: Entweder fahre ich dort ganz bald einmal selbst hin, am besten mit einer Gruppe – oder ich beschäftige mich nicht weiter damit. Lourdes am Laptop, das erscheint mir, der ich noch nie leibhaftig dort war, jedenfalls absurd. Nicht absurd erscheinen mir aber – und das ist mir wichtig – die Menschen, denen Lourdes etwas bedeutet, die teils seit Jahren regelmäßig dort hinfahren, dort über sich hinauswachsen und verändert, gestärkt in den Alltag zurückkehren. Wieder und wieder.

In meiner verbleibenden Zeit schreibe ich stattdessen Gregor Kauling eine Mail und bitte ihn um ein Gespräch. Kauling ist Priester im Bistum Münster und Rektor der zweitgrößten Wallfahrt Deutschlands: Kevelaer am Niederrhein, etwa eine Autostunde entfernt von Düsseldorf und wenige Kilometer vor der niederländischen Grenze. Vor der Pandemie kamen dort pro Jahr etwa 800.000 Wallfahrerinnen und Wallfahrer an. Zentrum der Kevelaerer Wallfahrt ist die Kopie eines Luxemburger Gnadenbilds, es zeigt Maria als Consolatrix Afflictorum, als die „Trösterin der Betrübten“.

Auch die Kevelaerer Wallfahrt ist international bekannt, wenn auch nicht in dem Maße wie Lourdes. Doch kommen Menschen aus ganz Deutschland und aus den angrenzenden Benelux-Staaten. Ein Unterschied zu Lourdes ist sicher auch, dass Kevelaer nicht nur große Gruppen anzieht, sondern Einzelpilger und ganz kleine Grüppchen – und die kommen gern nur für einen Tagesausflug, ohne Übernachtung.

Mein Handy klingelt, Gregor Kauling ruft an. Wie ist die Lage in Kevelaer, Herr Pfarrer? „Die Außengastronomie startet ja so langsam wieder, und das kurbelt natürlich auch das Pilgeraufkommen an“, sagt Kauling. Wie viele Pilger-Orte ist auch die Stadt Kevelaer eng verflochten mit der Wallfahrt, Restaurants und Hotels leben von den Pilgern. Und umgekehrt: Die Lokale locken Besucher in die Stadt, die der Wallfahrt dann einen Besuch abstatten. „Wir sind hier schon froh, dass die Inzidenzen weiter sinken“, sagt Kauling. „Auch wenn wir uns in Kevelaer ganz gut über die letzten Monate gerettet haben, ist klar: Wir können nicht ewig so weitermachen.“ Die kirchliche Pilgerunterkunft neben der großen Marien-Basilika stand über Monate wegen der Pandemie fast leer. „Wir haben ein erhebliches Defizit eingefahren.“

Viel lieber will Kauling allerdings über die positiven Erfahrungen der letzten Monate reden. Die gab es nämlich durchaus. So haben die christlichen Gemeinden in Kevelaer während der Pandemie das Projekt „Zeitpunkt Trost“ gestartet, ein ökumenisches Digital-Format der katholischen, evangelischen und freikirchlichen Christen. Von Montag bis Samstag gab es einen kurzen Mittagsimpuls mit Seelsorgern aller beteiligten Konfessionen. „Das war schon etwas Besonderes, als die evangelische Pfarrerin dann am Altar unserer katholischen Pilger-Basilika stand“, erzählt Kauling.

Wallfahrt ist ja wirklich kein ökumenisches Paradethema, denke ich mir. Gerade im Protestantismus gibt es teils erhebliche Vorbehalte gegen Wallfahrtsorte, die einige doch als allzu magisch aufgeladen wahrnehmen, mit ihren Bildchen, Heilwasserquellen oder Kerzenkapellen. Zwar läuft „Zeitpunkt Trost“ momentan nicht mehr, da die Corona-Einschränkungen gerade weiter zurückgehen, doch hofft Kauling, dass die neu gewonnene Kevelaerer Ökumene „weiterschwingen wird“, wie er es nennt. Vielleicht wird das Wallfahren in Zukunft ja ökumenischer, wer weiß das schon.

Pfarrer Gregor Kauling beobachtet jedenfalls sehr genau, wohin das Pilgern sich gerade allgemein entwickelt. Während das kirchliche Leben an vielen Orten mindestens stagniert oder eher noch zurückgeht – und damit auch die traditionellen Gemeindewallfahrten –, bleibt das Wallfahren an sich doch überaus attraktiv. „Wir erleben hier in Kevelaer ein riesiges Interesse daran.“ Die „neuen“ Pilger, das sind laut Kauling jene Menschen, die kaum an eine Kirche gebunden sind, die sich vielleicht noch nicht einmal selbst als „gläubig“ bezeichnen würden. „Ich nenne sie gern die Sucher. Sie experimentieren mit Spiritualität, sind offen und neugierig.“ Diese Pilger kämen dann ganz ohne Vorurteile in eine katholische Hochburg wie Kevelaer, schauten sich kurz das Gnadenbild an, gingen nicht mal unbedingt in eine der Kirchen und Kapellen. „Die gehen anschließend lieber in die Kneipe“, meint Kauling und lacht. „Aber irgendwas hier spricht sie an: Ob es die Architektur ist, die Musik, die Predigten, die sie vielleicht nur im Vorbeigehen aufschnappen.“ Kauling, der Ingenieur war, bevor er Priester wurde, nennt das die „Spiritualität der Tangente“. Die beschreibt er so: „Nehmen wir an, Kevelaer ist ein Kreis, der an einem Punkt von einer Linie gestreift wird – einer Tangente eben. Diese Linie kommt aus der Unendlichkeit und führt auch wieder dorthin, verliert sich gewissermaßen in der Ewigkeit. Sie steht für die Menschen, die einmal hier vorbeischauen und vielleicht nie wiederkommen. Aber sie hatten diese eine Berührung mit unserem Ort und mit Maria, der Trösterin der Betrübten. Die spannende Frage ist für mich: Was passiert an diesem Punkt der Berührung? Jedenfalls könnte es etwas sein, das sie für den Rest ihres Lebens begleitet.“

Jetzt habe ich auch einen Namen für meine erste Begegnung mit Lourdes. Es war ein spiritueller Tangenten-Moment. Der hat allerdings Lust gemacht auf eine zweite Berührung.

Redakteur Jonas Mieves auf Wallfahrt nach Lourdes - digital
© privat

Christ in der Gegenwart im Abo

Unsere Wochenzeitschrift bietet Ihnen Nachrichten und Berichte über aktuelle Ereignisse aus christlicher Perspektive, Analysen geistiger, politischer und religiöser Entwicklungen sowie Anregungen für ein modernes christliches Leben.

Zum Kennenlernen: 4 Wochen gratis

Jetzt testen