EditorialVerantwortung

Derzeit muss man zerknirscht zur Kenntnis nehmen, dass Gefahr eher niedere Instinkte befördern kann.

Wo Gefahr ist, wächst das Rettende auch.“ Was Friedrich Hölderlin vor rund 200 Jahren notierte, hat durchaus seine Richtigkeit. Auch die aktuell große Gefahr der Corona-Seuche setzte schließlich positive Kräfte frei: den Forscherdrang beispielsweise, mit dem ganz neue Arten von Impfstoffen entwickelt wurden. Auch die große Solidarität zu Beginn der Krise war so ein rettender Lichtblick.

Derzeit freilich muss man zerknirscht zur Kenntnis nehmen, dass Gefahr auch eher niedere Instinkte befördern kann. Jüngstes Beispiel: die Corona-Testzentren, die überall wie Pilze aus dem Boden schießen. Journalisten haben aufgedeckt: Längst nicht alle Betreiber verfolgen demnach das hehre Ziel des Gesundheitsschutzes. Sie haben hier schlicht eine Möglichkeit entdeckt, schnell und einfach Geld zu verdienen. Weil es bislang kaum staatliche Kontrollen gibt, haben sie munter deutlich mehr Tests in Rechnung gestellt, als sie tatsächlich durchgeführt haben.

Beim Seilbahnabsturz am Lago Maggiore war es ähnlich. Warum das Kabel gerissen ist, wissen wir zwar immer noch nicht. Klar scheint aber, dass die Betreiber die Notbremse manipuliert haben, weil sie wiederholt gehakt hat und den Betriebsablauf störte. Auch da ging wirtschaftliche Effizienz beziehungsweise Profitgier über Verantwortung.

Ein Vorgang aus dem Vatikan gehört ebenfalls in diese Reihe – bei aller Unschärfe und unvermeidbaren Schieflage des Vergleichs. Mitarbeiter des Kirchenstaats haben dagegen protestiert, dass ihnen wegen Corona die regelmäßige Gehaltserhöhung ausgesetzt werden soll. Dies sei „zum Nachteil der ehrlichen Arbeiter“, erklärten sie. Was soll das heißen? Wenn ich auf Privilegien verzichten muss (wer hat schon das Glück, alle zwei Jahre garantiert mehr Gehalt zu bekommen!), bleibt mir keine andere Wahl, als auf anderen Wegen Einkünfte zu generieren, irgendwie zu tricksen oder sogar Schlimmeres?

Man muss nicht die Systemfrage stellen, um festzustellen, dass bei all diesen drei Vorgängen etwas grundlegend nicht stimmt. Mit reichlich Zynismus betrachtet, könnte man sagen, dass die Verantwortlichen für die beschriebenen Taten – die Täter! – das kapitalistische Prinzip auf die Spitze getrieben haben. Konkurrenz, Leistung, Geld verdienen geht demnach über alles. Die soziale Verantwortung bleibt zunehmend auf der Strecke. Hat dieses Denken nicht längst viel zu viele Bereiche des Lebens ergriffen, wie etwa auch der Blick auf die Jüngsten zeigt? Kann gerade christliche Spiritualität hier einen nötigen Gegenakzent setzen?

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