So wie Meridiane in der traditionellen chinesischen Medizin Kanäle oder Leitbahnen sind, in denen die Lebensenergie (Qi) fließt, so wie in der Geografie Meridiane einen halben Längenkreis bezeichnen – so gibt es für Erich Garhammer biografische Knotenpunkte: „Meridiane, die wichtige Personen, Orte und Erkenntnisse meiner theologisch-biografischen Biografie miteinander verbinden.“
Bis zu seiner Emeritierung 2017 lehrte Garhammer Pastoraltheologie in Würzburg, zuvor in Paderborn – und hat sich (wie Karl-Josef Kuschel, Georg Langenhorst oder Jan-Heiner Tück) als Brückenbauer zwischen Theologie und Literatur erwiesen – zwei Welten, die sich oft fremd, mindestens misstrauisch gegenüberstehen. Garhammers Schlüsselerlebnis liegt dabei weit zurück: 1962, im Gymnasium in Passau. Sein sonst so eloquenter Seminardirektor hatte am Abend zuvor ein Stück von Samuel Beckett gesehen: „Mein Religionslehrer hat gespürt: ,Warten auf Godot‘ hat die selbstverständliche Rede von Gott suspendiert. Er war für einen Augenblick erschüttert, sprachlos. Die Gravur von Literatur war mir zum ersten Mal bewusst geworden.“
Entdeckungen im „Wortland“
Damals noch nicht absehbar, wurde diese Gravur Garhammers „Lebensthema“: Theologie als „Resonanzort der Literatur“. Dazu kam später das Unbehagen an einer als ungenügend empfundenen Kirchensprache.
Garhammer hat mit diesem Buch „die Lust verspürt, das Alphabet literatur-theologisch durchzubuchstabieren“. Es erwarten einen 26 Miniaturen, die es in sich haben. Von „Angst“ bis „Zynismusprophylaxe“ erstrecken sie sich. Und immer ist einem Buchstabenwort ein Thema beigegeben. Etwa: „Corona oder wie die Welt über Nacht eine andere war“, „Liturgie oder (k)ein Platz für Gefühle“, „Neugierde oder Langsamkeit als Magie des Erzählens“, „Tod oder warum Sterbegröße gelernt sein will“ oder „Übersetzen oder mit Gott im Clinch“, um nur fünf Buchstaben herauszuheben.
„Zwischen Paris und Stockholm läuft der Meridian des Schmerzes und des Trostes“, schrieb Nelly Sachs einmal von Schweden nach Frankreich an Paul Celan, der sich in einer lebensbedrohlichen Krise befand. Garhammer fragt: „Wie müsste eine Sprache aussehen, in der Achtsamkeit für das Unscheinbare, Wertschätzung für Alltägliches und die Biografien der Menschen, die Meridiane des Schmerzes und des Trostes und damit ihr Leben aufgehoben wären?“
Jenseits der Geschwätzigkeit
Bei etlichen Autorinnen und Autoren fand er diese „Resonanzfähigkeit“, etwa bei Arno Geiger, Reiner Kunze, Sibylle Lewitscharoff… Er bringt sie ins Gespräch mit Philosophen, Theologen, Publizisten oder Denkern wie Peter Sloterdijk, Hartmut Rosa, Tertullian, Boccaccio, Pier Paolo Pasolini, Johannes XXIII., Hannah Arendt oder Albert Camus. Es ist spannend, an dieser Tafel der Gelehrsamkeit Platz zu nehmen. Garhammer nennt sein Buch „eine Wünschelrute“, um selber „Meridiane in Theologie und Literatur“ zu entdecken, und er tut dies spannend, originell und unaufdringlich.
„Wir sind Poeten, wenn wir beten“: Das kann man auf jeder Seite spüren, ohne theologische Fachsprache oder Pastoraljargon. Eine von Garhammers Einsichten lautet: „Unsere wortreiche Geschwätzigkeit ist oft nur eine mit Worten getarnte Sprachlosigkeit. Man merkt es Literaten, aber auch Predigenden an, ob sie geschwätzig sind oder ob ihre Sprache hinabreicht ins Schweigen.“ Garhammer schwätzt nicht. Er (ver-)führt zum Schweigen.