Nach der Corona-Weltseuche wird die Geschichte neu geschrieben. Alles wird anders. Angeblich. Das behaupten Zukunftsforscher. Die Menschen seien wieder nachdenklich geworden über den Sinn des Lebens, wofür man da ist und was bleibt, wenn man stirbt. Ob der Tod jedoch tatsächlich derart in die Breite der Bevölkerung und in die Mitte des Bewusstseins drängte, darf bezweifelt werden. Das Tragische wird schnell verdrängt. Stattdessen drängt jetzt alles zur Rückkehr in die „Normalität“. Es soll halt doch wieder so sein wie vorher. Die Medien setzen propagandistisch die Akzente: Shoppen, Konsumieren, Reisen.
Zusehends Akademikerparteien
Die Themen, die die Meinungsmacher setzen, sind dieselben geblieben: Klima, Rassismus, Antisemitismus, Me-too, Homophobie, Islamophobie, sexueller Missbrauch in der Kirche, Diversität. Neu und stärker gewichtet ist jetzt: die Gendersprache. Sind das wirklich die Probleme, die Fragen, die die Leute haben?
Soeben haben sich zwei Autorinnen mit Büchern gegen die Mainstream-Aktivisten vorgewagt: die Parlamentarierin Sahra Wagenknecht, „das“ Gesicht der Linkspartei, sowie die Schriftstellerin und Journalistin Cora Stephan, ehemals als „links“, inzwischen von den Medien als rechtskonservativ, wenn nicht sogar der AFD nahestehend, etikettiert. In eigenartiger Geistesverbindung beleuchten sie von verschiedenen Seiten her, warum womöglich doch nicht alle Bürger so denken, wie „man“ denkt oder zu denken hat.
Sahra Wagenknecht analysiert dazu das – wie sie es nennt – linksliberale Milieu einer gehobenen Mittelschicht und Oberschicht. Die Autorin spricht lieber von Lifestyle-Linken, die sich inzwischen fast in der gesamten Parteienlandschaft angesiedelt haben, unterschiedlich gewichtet bei den Sozialdemokraten, der Linkspartei, unter Freien Demokraten und Teilen der CDU, ausgeprägt unter den Grünen. Diese hatten bei der letzten Bundestagswahl gerade mal knapp neun Prozent erreicht, womit sie die schwächste Oppositionspartei im Parlament bilden.
Die meisten Linken finden sich in „Akademikerparteien“. Sie kommen aus der Aufsteigergeneration der Wirtschaftswunderzeit, gehören nun zu den „besseren Kreisen“. Sie sind großstädtisch sozialisiert, können sich teuren Wohnraum – gern in den Stadtzentren – leisten, geben sich kosmopolitisch, mobil, flexibel, progressiv und dünken sich jenen weit überlegen, die in eher unsicheren oder schlechtbezahlten Arbeitsverhältnissen zusehen müssen, wie sie durchkommen, sich und ihre Familien ernähren. Bei den Lifestyle-Linken dreht sich nach Beobachtung der Autorin vieles um „Selbstbestätigung“. Sogar die Demo-Teilnahme – etwa für Klimaschutz im Kontext der Fridays-for-Future-Bewegung – werde „zu einem Akt der Selbstverwirklichung. Man fühlt sich einfach gut dabei, wenn man mit Gleichgesinnten für das Gute auf die Straße geht.“
Sahra Wagenknecht plädiert entschieden für Mitte und Maß, für Realitätssinn und für kritische Selbstwahrnehmung, gegen eine moralistisch überhebliche Selbstgerechtigkeit, die sich bevorzugt rhetorisch äußert, im Tun aber Widersprüche zeigt. Ist es nur Zufall, wenn – wie neulich untersucht – unter jenem Teil der Bevölkerung, der einen verbrauchsstärkeren SUV fährt, das Klientel der Grünen leicht überdurchschnittlich vertreten ist? Dem Klima gilt nicht die erste Sorge der Geringerverdienenden, die – zumal als Familie – von Kohlendioxidabgaben und höheren Fleischpreisen weitaus heftiger getroffen werden als gut verdienende Lifestyle-Ökos.
Lob für katholische Soziallehre
Sahra Wagenknechts Blick ist scharf. Sie übersieht daher nicht einmal, wie sich die Lifestyle-Linken bei Demonstrationen weniger als Protestierer denn als Event-Begeisterte inszenieren. Man legt Wert darauf, dass es dabei „fröhlich, bunt und gut gelaunt zugeht, dass die Transparente nicht nur anklagend, sondern auch witzig sind, dass nicht nur demonstriert, sondern auch gefeiert wird.“
Die Linksliberalen spielen souverän auf der Klaviatur der Kreativität und Originalität, immer kosmopolitisch, überall und nirgendwo. Ein neuer „Erbadel“ ist da entstanden, so Sahra Wagenknechts Einschätzung. Allzu viele Neuaufsteiger sollen nicht in die eigene Klasse hineindrängen. Die eigenen Kinder werden milieugerecht gefördert und nochmals gefördert, besonders gern auf Privatschulen geschickt oder zumindest dorthin, wo nicht zu viele Ausländerkinder in den Klassen sind.
Die besseren Kreise bevorzugen Debatten, die für sie selber eher Luxus-Debatten sind, die sie nichts kosten. Am liebsten „solidarisiert“ man sich mit den „Opfern“. Und fürs Opfersein reicht es schon aus, sich beleidigt, gekränkt zu fühlen. „Ob jemand weiß oder schwarz, homo- oder heterosexuell ist oder ob er aus einer alteingesessenen oder einer eingewanderten Familie stammt. Danach definiert sich nicht nur, wer über was sprechen und urteilen darf, sondern auch, wer als privilegiert und wer als Opfer gilt, wer also Anspruch auf besondere Förderung erheben darf.“ Nur: Die wirklich Unterprivilegierten haben davon wenig bis nichts.
Die promovierte Volkswirtschaftlerin Sahra Wagenknecht gewichtet die soziale Frage neu. Sie erinnert mehrfach an die bedeutende Rolle, die einmal die katholische Soziallehre spielte. Sie verweist auf den weitgehend vergessenen Ordoliberalismus der Freiburger Schule, der gegen den Neoliberalismus Ordnungsrahmen für ein soziales Wirtschaften, für eine soziale Marktwirtschaft formulierte. Die globalisiert total offene Gesellschaft ist für die Linken-Politikerin kein Zukunftsmodell.
Die linke Lifestyle-Solidarität
Germany first? Sahra Wagenknecht sagt es nicht, meint es aber in dem Sinne, dass Solidarität nach draußen, für Kriegsflüchtlinge und wahrhaft politisch Verfolgte, die Solidarität nach innen voraussetzt. Das Reden von völlig offenen Grenzen, die Papst Franziskus unermüdlich beschwört, hat mit den Not wendenden Kernprinzipien der katholischen Soziallehre Personalität (Eigenverantwortung) und Subsidiarität, die der Solidarität vorausgehen und diese zu begleiten haben, nichts zu tun. Nach wie vor tragen die Nationalstaaten und deren Regierungen die erste Verantwortung für ihr Volk. „In einer intakten Familie fühlen wir uns anderen Familienmitgliedern enger verbunden als Menschen, die nicht zur Familie gehören. Das ist kein moralisch fragwürdiges, sondern ein normales menschliches Verhalten.“
Links und konservativ – das machte einmal den seit langem schwächelnden Sozialflügel von CDU und CSU aus, der jedoch zugunsten einer wertliberalen Ausrichtung gestutzt wurde, um die aufstrebenden „modernen“, jüngeren Lifestyle-Schichten zu gewinnen. Sahra Wagenknecht geniert sich nicht, die konservative Verortung ihres engagierten Linksseins herauszustellen. Sie plädiert ausdrücklich für bürgerliche Tugenden, für einen „Wertkonservatismus“: Anstand, Maßhalten, Zurückhaltung, Zuverlässigkeit, Treue, Disziplin, Fleiß, Anstrengung, Professionalität, Genauigkeit, Heimatliebe. Also genau das, was von Linksliberalen als rückständig abqualifiziert wird.
Es ist das Glück des Bewährten, das den Menschen im Wandel geistig trägt. Davon ist auch Cora Stephan überzeugt. In Krisenzeiten braucht man nicht das Überspannte, Überhitzte, hysterisch Übersteigerte, vielmehr das Normale: „Das Normale ist nicht schlagzeilenträchtig.“ Aber es geht nicht ohne die Vielen, die schlicht ihren Dienst tun, ihre Pflicht erfüllen: „Handwerker und Bauern, Polizisten und Feuerwehrleute, Postboten und LKW-Fahrer, Verkäufer, Apotheker, Reinigungskräfte, Pfleger…“ Verzichtbar sind dann, so Cora Stephan, eher der „Meinungshabende, der Intellektuelle, sind die Plaudertaschen in den Medien oder gar die Influencer im Netz.“ Normal sei das, „was Gewohnheit begründet, etwas, das man nicht erklären muss. Auf das man sich verlassen kann.“
Die Biologie – ganz normal
Normal ist, dass es Mann und Frau gibt, die sich fortpflanzen, Vater und Mutter, die sich in wechselseitiger Fürsorge um die Erziehung ihrer Kinder und die Versorgung ihrer Familie kümmern. Die Ehe ist und bleibt – so Cora Stephan – „die Urzelle von Fürsorge“, eine „Autarkie“, eine „Privatsphäre gegen die Übermacht des Politischen“. „In Krisenzeiten sind jene im Vorteil, die sich abschließen können: die Verwurzelten, die einen Ort haben“. Cora Stephan plädiert für eine Rückbesinnung. „Was also ist normal? All das, was 68ff. als Spießertum etikettiert wurde? Traditionen, Glauben, Konventionen, Heimat oder, ganz schlimm, Vaterland – das alles sollte damals auf den Schutthaufen der Geschichte geschickt werden. Regeln und Institutionen: stören bloß die freie Entfaltung. Sexualmoral, Ehe und Familie: alles des Teufels.“ Aber: „Regeln und Institutionen sind nicht nur Gefängnisse der freien Individuen, sondern sie dienen ihrer Entlastung: Nicht alles muss ‚ausdiskutiert‘ werden, auf einiges kann man sich schlicht und einfach verlassen, auch Gewohnheiten können befreiend wirken.“
Früher waren die Unionsparteien die Repräsentanten gerade der einfachen Leute. Die Sozialdemokratie hatte sich mit dem Arbeitermilieu verbündet. Beide Ex-Volksparteien leiden unter dem Verlust ihrer Stammmilieus, die „C“-Parteien vor allem unter dem Verlust des Christlichen. „Dabei“, so Cora Stephan, „ist es die christliche Prägung Europas, der wir den Sieg des Individuums über kollektivistische Kulturen verdanken.“ Bildet sich unter der Federführung der Lifestyle-Linken ein neuer Kollektivismus und Uniformismus heraus? Mit Themen, denen sich die Kirchen anbiedern, von denen sie meinen, ihnen moralisierend huldigen zu müssen, in der Illusion, so wieder modern zu erscheinen? Dabei hätten sie ihr eigenes Kernthema mit eigener Kompetenz zuvörderst zu beackern: die Schwierigkeit, in einer aufgeklärten, entmythologisierten, wissenschaftlich erforschten Welt jenseits konventionell-mythologischer und konventionell-magischer Vorstellungen Gott neu zu denken und an Gott neu zu glauben.
Ob Sahra Wagenknecht links oder Cora Stephan rechts: Wer derart von verschiedenen Seiten des politischen Spektrums her Ähnliches kritisch beobachtet, sollte zumindest gehört und ernstgenommen werden. Viele denken eben anders, als „man“ im Mainstream denkt.
Literatur:
Sahra Wagenknecht, „Die Selbstgerechten. Mein Gegenprogramm – für Gemeinsinn und Zusammenhalt“ (Campus Verlag, Frankfurt am Main 2021, 345 S., 24,95 €).
Cora Stephan, „Lob des Normalen. Vom Glück des Bewährten“ (FinanzBuch Verlag, München 2021, 238 S., 16,99 €).