Interview mit Bischof Heiner Wilmer von Hildesheim„Wer von Versöhnung sprechen will, darf vom Unversöhnten nicht schweigen“

Das deutsche Kolonialregime hat seinerzeit einen Völkermord an den Herero und Nama begangen. Es ist gut, dass die Bundesregierung dies jetzt offiziell einräumt und sich damit endlich ihrer historischen Verantwortung stellt. Wie das aktuelle Abkommen mit Namibia mit Leben gefüllt werden kann und welche Rolle die Kirchen dabei spielen sollten, erklärt Bischof Heiner Wilmer SCJ. Er ist Vorsitzender der Deutschen Kommission Justitia et Pax.

Als wichtigen Schritt der Versöhnung hat die Deutsche Kommission Justitia et Pax (Gerechtigkeit und Frieden) die Übereinkunft begrüßt. Die Kommission ist das Forum für katholische Einrichtungen und Organisationen, die im Bereich der internationalen Verantwortung der Kirche tätig sind. Unser Foto oben zeigt ihren Vorsitzenden, den Hildesheimer Bischof Heiner Wilmer (links), beim Zoom-Interview mit CIG-Chefredakteur Stephan Langer.

CHRIST IN DER GEGENWART: Dass auch Deutschland Kolonien hatte, weiß man zwar irgendwie. Was das aber konkret bis heute bedeutet, scheinen sich die meisten nicht klarzumachen. Bischof Wilmer, wie erleben Sie das?

Heiner Wilmer: Ich würde sogar noch weiter gehen und sagen: Es ist praktisch nicht in unserem kollektiven Bewusstsein verankert, dass Deutschland überhaupt Kolonien hatte. Als Gymnasial lehrer – ich habe ja auch Geschichte studiert – musste ich immer wieder feststellen, dass es für Schüler selbst im Alter von 17, 18 Jahren völlig verblüffend war, wenn sie in meinem Unterricht von dieser Vergangenheit hörten. In Frankreich etwa ist das ganz anders. Da ist die eigene koloniale Geschichte, auch die gewaltbelastete Vergangenheit, sehr präsent.

Warum stellt sich das Thema im öffentlichen Bewusstsein so unterschiedlich dar?

Mein Eindruck ist, dass wir Deutsche das aufgrund der fürchterlichen Ereignisse des 20. Jahrhunderts ausblenden. Der Erste Weltkrieg, den wir angezettelt haben, dann die unsägliche Nazi-Diktatur, der Vernichtungsfeldzug des Zweiten Weltkriegs, die Shoah … Das ist alles so heftig und so schlimm, dass wir historisch nicht weiter zurückgehen. Erst jetzt dämmert uns, dass es auch in unserem Land viel gibt, das mit der kolonialen Vergangenheit zu tun hat: Strukturen, Gepflogenheiten, auch Kulturelles. Ich persönlich hatte allerdings schon früh mit dem Thema zu tun.

Inwiefern?

Wenn ich an meinen Heimatort denke, Schapen im Emsland, ein Dorf mit 2400 Einwohnern … Selbst dort gab es damals einen sogenannten Kolonialwarenladen. Das hat mir als Kind natürlich nichts gesagt. Ich wurde aber ganz konkret über einen hageren alten Mann in der Nachbarschaft mit dem Thema konfrontiert. Er war der Einzige in unserem Ort, der beide Arme von oben bis unten tätowiert hatte. Über ihn hieß es immer, er sei schon beim Boxer-Aufstand dabei gewesen. Wie wohl viele, habe ich bei diesem Begriff zuerst an Cassius Clay beziehungsweise Muhammad Ali gedacht. Erst später im Geschichtsunterricht lernte ich, dass wir Deutsche Kolonien im heutigen China hatten und dass Bismarck Truppen dorthin schickte, um einen Aufstand niederzuschlagen. Der Nachbar im Ort war einer der wenigen Überlebenden dieser gescheiterten militärischen Mission. Ich habe mich dann später in meinem Studium intensiv mit diesem Kapitel unserer Geschichte beschäftigt.

Spielte speziell auch Namibia für Sie eine Rolle? „Deutsch-Südwestafrika“ wurde diese Kolonie seinerzeit genannt…

Zu Namibia habe ich sogar einen ganz persönlichen Bezug. Ein Verwandter von mir, der Cousin meiner Mutter, war dort Ordensmann. Als Salesianerpater der Oblaten des heiligen Franz von Sales hat er praktisch sein gesamtes Priesterleben in Namibia verbracht. Er war an unterschiedlichen Orten eingesetzt, etwa in Stampriet, Rehoboth, Keetmanshoop … In seinen Briefen hat er immer begeistert erzählt, und das war für mich auch ein Grund, Ordensmann und Priester zu werden. Seine Briefe habe ich heute noch, sie rühren mich nach wie vor sehr an.

Bleiben wir zunächst bei der Politik: Aus heutiger Sicht scheint es mehr als befremdlich, dass europäische Staaten derart imperialistisch auftreten, die restliche Welt unter sich aufteilen…

Es gab zwischen den Nationen einen Wettlauf um wirtschaftliche Ressourcen, um Einfluss in der Welt, auch um strategische Punkte, also den Zugang zu Häfen … „Geregelt“ wurde das auf der sogenannten Berliner Konferenz von 1884/1885. Bismarck hatte europäische Großmächte zu diesem Treffen eingeladen, um das jeweilige Vorgehen am Kongo und am Niger miteinander abzustimmen. Doch im Grunde genommen wurde dabei die Aufteilung des Kontinents in Kolonien besprochen. Die Haltung, die damals vorherrschte, brachte der Staatssekretär des Auswärtigen Amtes des Deutschen Kaiserreiches, Bernhard von Bülow, einige Jahre später auf den Punkt: „Wir wollen niemand in den Schatten stellen, aber wir verlangen auch unseren Platz an der Sonne.“ Das sagte er 1897 und besiegelte damit endgültig den expansiven Kolonialismus des Deutschen Kaiserreiches.

Und die Kirche war immer dabei?

Bei der Berliner Konferenz nicht unmittelbar. Aber sie war schon viel früher in Afrika, von Deutschland aus auch durch die sogenannte Rheinische Missionsgesellschaft in Deutsch-Südwestafrika. Dies war ein Zusammenschluss von drei evangelischen Missionsvereinen, gegründet 1828. Auf der Gedenktafel am Gründungsort in Mettmann wird ausdrücklich Markus 16,15 zitiert: „Geht hinaus in die ganze Welt und verkündet das Evangelium der ganzen Schöpfung.“ Mission fand also immer statt, und das ist auch gut so. Denn sie gehört zum Christentum wie das Wasser zur Taufe. Die Botschaft Christi darf den Menschen nicht vorenthalten werden, sie gehört der gesamten Menschheitsfamilie.

Rein zahlenmäßig war die Mission gerade in Namibia überaus erfolgreich: 80 Prozent der Einwohner sind Christen, die meisten evangelisch. Aber wenn man bedenkt, wie diese Zahlen zustande gekommen sind, erscheint das doch sehr fragwürdig…

Das Verhältnis der Mission zum von Gier getriebenen Kolonialismus war immer ambivalent. Auch die Kirche profitierte unbestritten von den kolonialen Verhältnissen, es gab unselige Verstrickungen in die Gewaltverhältnisse. Und es ist ebenfalls wahr, dass es allzu oft am Verständnis fehlte. Nicht wenige Missionare gingen wie alle anderen von einer grundlegenden Überlegenheit der Weißen aus. Nicht zufällig hat Papst Johannes Paul II. diese Thematik in seinem Schuldbekenntnis für die Kirche im Jahr 2000 angesprochen, wo es unter anderem heißt: „Oft haben die Christen das Evangelium verleugnet und der Logik der Gewalt nachgegeben. Die Rechte von Stämmen und Völkern haben sie verletzt, deren Kulturen und religiöse Traditionen verachtet.“

"Die Kirche profitierte von den kolonialen Verhältnissen. Es gab unselige Verstrickungen. Allerdings ging auch der Protest gegen das Unrecht wesentlich von Missionaren aus." (Bischof Heiner Wilmer von Hildesheim)

Festzuhalten ist aber genauso: Der Protest gegen das Unrecht des Kolonialismus wie auch gegen das Unrecht des Sklavenhandels ging wesentlich von Missionaren aus. Sie waren diejenigen, die sich um das Erlernen und Verstehen der Kultur der kolonisierten Völker kümmerten. Das Schul- und Gesundheitswesen ist in vielen Kolonien eng mit den Missionaren verbunden.

Es lohnt sich jedenfalls, die Entwicklung der Missionsgeschichte genauer anzuschauen. Es ist die Geschichte einer tiefergehenden Lernbewegung. Die Auseinandersetzung um die Inkulturation ist auch immer eine Auseinandersetzung um die Würde der Menschen und ihrer Kulturen.

Wenn wir nach vorne schauen: Jetzt muss es um die Konfrontation mit der komplexen Geschichte gehen, um Aufarbeitung, um den Aufbau vertrauensvoller neuer Beziehungen. Wie kann das gelingen?

Das kirchliche Wort dafür heißt „Versöhnung“. Es bedeutet, vom lateinischen reconciliatio her, die Wiederherstellung verletzter Beziehungen. Wer aber von Versöhnung sprechen will, darf vom Unversöhnten nicht schweigen. Ohne die Grundlage von Wahrhaftigkeit und Wahrheit werden wir nicht weiterkommen. Deshalb muss in einem ersten Schritt Stück für Stück die Verletzung auf den Tisch. Das bedeutet auch, über die Verletzer, die Täter also, sowie über deren Beweggründe zu sprechen. Das ist hart und schmerzhaft, und es ist kein Wunder, dass es deshalb auf viele Widerstände trifft!

"Ohne Wahrhaftigkeit und Wahrheit werden wir nicht weiterkommen. Die Verletzungen müssen auf den Tisch, und wir müssen auch über die Verletzer, die Täter, sprechen. Das ist schmerzhaft." (Bischof Heiner Wilmer von Hildesheim)

Versöhnung bedeutet eine tiefgehende persönliche und gesellschaftliche Transformation, die sich an den Erfahrungen der Opfer, der Betroffenen, auszurichten hat.

Sind wir als Christen nicht die Experten für Versöhnung?

Die Kirche hat tatsächlich vielfältige praktische Erfahrungen auf diesem Feld. Für uns hierzulande war sicher das Schreiben der polnischen an die deutschen Bischöfe von 1965 prägend. Darin standen die großen Worte: „Wir vergeben und bitten um Vergebung.“

Ja, das Arbeiten für Versöhnung an der Seite der Verletzten sowie der Schuldigen gehört wesentlich zu uns. Dabei spielt Erinnerung an das Erlittene, die memoria passionis, eine wesentliche Rolle. In der jüdischen Tradition heißt es zu Recht: In der Erinnerung liegt Erlösung.

In dem Zusammenhang möchte ich auf zwei Texte von Papst Franziskus verweisen, sie stammen beide aus seiner jüngsten Enzyklika „Fratelli tutti“ (Nr. 249). Zum einen wehrt sich der Papst hier gegen die Tendenz, die Vergangenheit abschließen und nur nach vorne schauen zu wollen. Franziskus nennt diese Haltung eine „Versuchung“. Konkret schreibt er: „Um Gottes willen, nein! Ohne Erinnerung geht es nicht voran, man entwickelt sich nicht weiter ohne eine umfassende und hellsichtige Erinnerung.“

Sich zu erinnern, das bedeutet dann aber auch, positiv gewendet, sich an die ermutigenden Leistungen von Menschen zu erinnern, die für Versöhnung da waren, die sich mutig an die Seite der Opfer und Betroffenen gestellt haben. Papst Franziskus nennt das „die Erinnerung an diejenigen, die inmitten eines vergifteten und korrupten Umfeldes die Würde zurückgewinnen konnten und sich mit kleinen oder großen Gesten für Solidarität, Vergebung und Geschwisterlichkeit entschieden haben.“ Wir dürfen uns also auch an das Gute erinnern.

Was folgt aus alledem? Was kann das konkret heißen für die Versöhnung zwischen Namibia und Deutschland?

Friedrich Hegel hat den schönen Satz geprägt: „Die Eule der Minerva beginnt ihren Flug in der Dämmerung.“ Das heißt so viel wie, dass wir Entwicklungen oft erst erklären können, wenn die zu erklärenden Phänomene Geschichte sind. Vielleicht war es bisher einfach auch noch nicht möglich, die koloniale Vergangenheit wirklich aufzuarbeiten. Ich bin aber überzeugt, dass diese historische Chance jetzt besteht.

Wir brauchen dazu die Bereitschaft zum konstruktiven Konflikt. Wir brauchen außerdem eine Kultur der Anerkennung von Leiden und der Multiperspektivität. Wir müssen bereit sein, ernsthaft miteinander in Beziehung zu gehen, um gemeinsam die Folgen der gewaltbelasteten Vergangenheit zu bewältigen. Wir sollten Handlungs- und Beziehungszusammenhänge schaffen, gemeinsame Vorhaben, joint ventures, verwirklichen.

Die Deutsche Kommission Justitia et Pax hat einen konkreten Vorschlag gemacht.

Zum einen überlegen wir, wie wir vor Ort in Namibia Zeichen setzen können. Die Kirche hat dazu ganz andere Möglichkeiten als der Staat. Gedacht ist etwa, gemeinsam zum Waterberg zu pilgern. Dort fand einst die entscheidende Schlacht statt, in deren Folge der deutsche Befehlshaber Lothar von Trotha die Herero in der Wüste verdursten ließ.

Zum anderen schlagen wir vor, am Ort der Berliner Konferenz von 1884/1885 – das ist die Wilhelmstraße 92 – einen gemeinsamen Erinnerungs- und Begegnungsort zu schaffen. Bislang gibt es dort lediglich eine Gedenktafel, was dem Geschehen in keinster Weise angemessen ist. Dieses große Projekt wollen wir ökumenisch und natürlich gemeinsam mit europäischen und afrikanischen Partnern angehen. Ich setze mich persönlich mit aller Kraft dafür ein, dass das gelingt. Denn ich bin überzeugt: Ohne Versöhnung kann es keinen Frieden geben. Das Aufarbeiten der Kolonialgeschichte ist ein wesentlicher Beitrag zum Frieden.


Stichwort: Deutsche Kolonialgeschichte

Das Deutsche Reich war von 1884 bis 1915 Kolonialmacht auf dem Gebiet des heutigen Namibia. Diese Kolonie wurde „Deutsch-Südwestafrika“ genannt.

Bei ihrem Vormarsch verdrängten die Kolonialherren die einheimischen Völker der Herero und Nama. Der Krieg von 1904 bis 1908 war ein Massenmord, der als erster Genozid im 20. Jahrhundert gilt. Historiker schätzen, dass 65000 von 80000 Herero und mindestens 10000 von 20000 Nama getötet wurden.

Deutschland wehrte sich lange gegen die Übernahme der Verantwortung für seine koloniale Vergangenheit. Erst 2015 nahm man Verhandlungen mit der namibischen Regierung auf, maßgeblich geführt von dem CDU-Politiker Ruprecht Polenz. In diesem Mai – mehr als 100 Jahre nach den Verbrechen – wurde eine Einigung erzielt. In einer „Gemeinsamen Erklärung“ wird der Völkermord an den Herero und Nama anerkannt. „Als Geste der Anerkennung des unermesslichen Leids, das den Opfern zugefügt wurde, wollen wir Namibia und die Nachkommen der Opfer mit einem substanziellen Programm in Höhe von 1,1 Milliarden Euro zum Wiederaufbau und zur Entwicklung unterstützen“, sagte Außenminister Heiko Maas. Deutschland will zudem offiziell um Vergebung bitten.

Als wichtigen Schritt der Versöhnung hat die Deutsche Kommission Justitia et Pax (Gerechtigkeit und Frieden) die Übereinkunft begrüßt. Die Kommission ist das Forum für katholische Einrichtungen und Organisationen, die im Bereich der internationalen Verantwortung der Kirche tätig sind. Unser Foto oben zeigt ihren Vorsitzenden, den Hildesheimer Bischof Heiner Wilmer (links), beim Zoom-Interview mit CIG-Chefredakteur Stephan Langer.

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