Die Kirche ist nicht mehr zeitgemäß. Sie hält teilweise zu starr an überholten Normen fest. Sie ist nicht offen und nicht tolerant. Sie bietet Frauen nicht die gleichen Chancen wie Männern. Zu der Rekordzahl von 273000 ausgetretenen Katholiken 2019 kommen 39 Prozent, die schon mal über einen Austritt nachgedacht haben. Erstmals bezeichnen sich weniger als die Hälfte aller Katholiken als gläubig oder der Kirche verbunden, nur noch neun Prozent gehen in den Gottesdienst. Und: Es gibt zwar ein großes Potenzial, mit allen katholischen Zielgruppen zu kommunizieren, aber die Kirche schafft es nicht professionell genug.
„Das Image der römisch-katholischen Kirche bei ihren Gläubigen kann nicht anders als desolat bezeichnet werden.“ (Viera Pirker, Professorin für Religionspädagogik und Mediendidaktik)
„Das Image der römisch-katholischen Kirche bei ihren Gläubigen kann nicht anders als desolat bezeichnet werden“, bilanziert Viera Pirker, Professorin für Religionspädagogik und Mediendidaktik in Frankfurt den MDG-Trendmonitor, der am vergangenen Mittwoch vorgestellt wurde. Im Auftrag der Medien-Dienstleistung GmbH (MDG), der Medien-Beratungsfirma der deutschen Bischöfe, fühlten das Sinus-Marktforschungsinstitut und das Allensbacher Institut für Demoskopie den deutschen Katholiken zum vierten Mal den Puls. Für ihre Untersuchung befragten sie 1690 katholische Christen, und so entstand ein repräsentativer Querschnitt, was das katholische Deutschland denkt, erwartet, besorgt, wütend macht, gleichgültig lässt und – das ist das Besondere – wie sie Medien nutzen. Der besorgniserregende Befund: Der Patient katholische Kirche liegt nach wie vor auf der Intensivstation:
- Zwar hat die Religiosität in der Bevölkerung nicht abgenommen, aber die Institute beobachten eine fortschreitende Abkehr von der Kirche.
- Insgesamt wird die „helfende Kirche“ für ihr sozial-karitatives Engagement oder ihren Einsatz für Frieden und Menschenrechte von der großen Mehrheit der Kirchenmitglieder geschätzt und unterstützt. Auf breite Ablehnung stoße dagegen die „fordernde Kirche“, die die Handlungsfreiheiten des Einzelnen beschränkt.
- Kirchendistanzierte Christen sind mit 34 Prozent das inzwischen größte Katholikensegment.
Die Ergebnisse reihen sich ein in eine Vielzahl von Studien und Untersuchungen, die seit geraumer Zeit den Kirchen eine deprimierende Zukunft vorhersagen. Es ist ja nicht so, dass all diese Horrorszenarien plötzlich über uns hereinbrechen. Seit mehr als 20 Jahren zeichnet sich diese Entwicklung ab, werden wir mit immer frustrierenderen Zahlen, Daten und Fakten konfrontiert, die in der Feststellung gipfeln: So wie sie ist, funktioniert die katholische Kirche in Deutschland nicht mehr.
Man muss das so sagen, wenn man die Kirche nicht einfach als potenten Sozial-Dienstleister und karitativen Marktführer betrachtet. Hier spielt sie noch immer eine dominierende Rolle und bekommt auch die höchsten Zustimmungsraten. 80 Prozent der Katholiken sind mit dem karitativen Engagement der Kirche „weitgehend einverstanden“.
Aber sie funktioniert nicht mehr als Volkskirche, als Abbild unserer Gesellschaft, als einladende, umarmende und gemeinschaftsstiftende Institution. In wesentlichen existenziellen Fragen, die wir in den vergangenen Jahren teils unter großen Anstrengungen verhandelt und geklärt haben, sind die Katholikinnen und Katholiken in diesem Land nur noch in geringem Maße mit den Haltungen der Kirche einverstanden: Umgang mit Homosexuellen (15 Prozent), Haltung zur Sexualität (13 Prozent), Rolle der Frau (12 Prozent), Empfängnisverhütung (10 Prozent). Innerkirchlich herrscht dasselbe verheerende Bild vor: Die Mitglieder finden nur zu 13 Prozent den Umgang mit Kritikern der Kirche gut. Nur jeder Zehnte ist mit der Aufklärung von Missständen innerhalb der Kirche einverstanden.
Auch deshalb gibt es ja den Synodalen Weg, um sich – ausgelöst durch die unbefriedigende Aufarbeitung der Missbrauchskrise – auf breiter Basis genau diesen schwierigen Themen zu widmen. Aber skeptisch betrachtet aus Rom und vehement kritisiert in den eigenen Reihen, sind die Erfolgsaussichten fraglich. Das liegt vor allem daran, dass es die Menschen, für die die Kirche da ist, nein: die wir alle Kirche sind, immer weniger interessiert: Nur jeder Vierte nimmt „ganz besonders“ Anteil an „Themen, die in der Kirche umstritten sind, wie Abtreibung, Zölibat, Frauenpriestertum usw.“. Damit schaffen sie es nicht in die Top Ten der Themen, die Katholiken am meisten interessieren, eine Liste, die von „Gesundheit“ (64 Prozent) angeführt wird.
Aber, ohne allen Engagierten zu nahe zu treten: Das sind Nebenschauplätze. An einer Diskussion oder gar Klärung all dieser Fragen, die schon längst hätte herbeigeführt werden müssen, wird sich die Zukunft der Kirche nicht entscheiden. Viel alarmierender sind diese Zahlen: Es interessieren sich „ganz besonders“ für
- Wie man Kindern Glauben und Kirche näherbringen kann, religiöse Erziehung – 15 Prozent
- Wie man in der heutigen Zeit seinen Glauben leben kann – 13 Prozent
- Kirchliches Brauchtum – 12 Prozent
- Predigttexte, Bibeltexte – 9 Prozent.
Hier hat die katholische Kirche versagt. Hier hat die katholische Kirche in den vergangenen Jahrzehnten Terrain preisgegeben und Menschen verloren. Viele kennen zentrale Glaubensinhalte oder die wichtigsten kirchlichen Feste oder die bedeutendsten Aussagen Jesu nicht mehr, weil sie nicht wissen, wozu das alles gut sein soll. Sie wissen nicht, warum Glaube sinnvoll ist und was das mit ihrem Leben zu tun hat. Drei von vier Katholiken glauben an die Seele, aber die Kirche tut zu wenig in der Sorge um sie.
Diese erschütternde Entwicklung ist umso erstaunlicher, als die Kirche vor mehr als 50 Jahren mit enorm positivem Schub in unsere Zeit gestartet ist. Grandiose Aufbrüche und zeitgemäße, moderne Dokumente hat das Zweite Vatikanische Konzil uns allen mit auf den Weg gegeben, darunter auch den berühmten Auftrag, „nach den Zeichen der Zeit zu forschen und sie im Licht des Evangeliums zu deuten. So kann sie dann in einer jeweils einer Generation angemessenen Weise auf die bleibenden Fragen der Menschen nach dem Sinn des gegenwärtigen und des zukünftigen Lebens und nach dem Verhältnis beider zueinander Antwort geben“ (Gaudium et spes 4).
Der MDG-Trendmonitor 2020/21 ist ein erneuter Beleg dafür, dass das nicht so richtig geklappt hat. Wenn bei allen Skandalen, Strukturdiskussionen und Strategieprozessen die Glaubenskerne und ihre Vermittlung derart vernachlässigt werden, helfen auch Synodale Wege nicht bei der Rückereroberung von Relevanz. Und dann wirkt auch der Missionsbefehl Jesu (Mt 28,19–20) plötzlich hohl. „Macht alle Menschen zu meinen Jüngern.“ Das geht ins Leere, wenn die Menschen nicht erfahren, warum sie folgen sollen. Gravierender noch: Die Autoren des Trendmonitors konstatieren, dass eine „Missionierungsabsicht“ die Abkehr von der Kirche noch verschärfen würde.
Wie so oft in den vergangenen Jahren stellt sich die Frage: Und jetzt? Es ist dem Trendmonitor hoch anzurechnen, dass er sich ausführlich und vielfältig auch den Interpretationen und Impulsen für die künftige Arbeit widmet und Handlungsempfehlungen für die Sinus-Milieus gibt. Es ist spannend, die Kommentare von Experten aus Theologie, Religionssoziologie und Kommunikation am Ende der Studie zu lesen. So schreibt zum Beispiel der Social-Media-Pionier Christoph Krachten: „Dort, wo Gott, der Glaube zuhause ist, da ist die Disruption zuhause. In der Kirche erwarten wir, wachgerüttelt zu werden. Es ist der Ort, der sich von allem unterscheidet, mit dem wir im Alltag zu tun haben. Kirche und Glaube sind im eigentlichen Sinne krass, und die Gläubigen werden aus ihrem Alltag herausgerissen. Wo finden wir so viel krasse Kunst, krasse Architektur und vor allem krasse Geschichten (aus der Bibel)? Kirche ist also im besten Sinne krass bzw. disruptiv und gehört deshalb in die digitalen Medien.“
Womit wir bei der Kommunikation wären, die im Trendmonitor einen breiten Raum einnimmt. Und bei uns, den katholischen Journalistinnen und Journalisten, angefangen bei den unzähligen Macherinnen und Machern der Pfarrbriefe, deren Engagement für dieses noch immer erfolgreichste konfessionelle Medium nicht genug wertgeschätzt werden kann. Wir alle treffen auf Katholiken, die so digital sind wie noch nie, aber auch so uninteressiert an Religion und Glaube wie noch nie. Deses riesige Potenzial zeichnet sich vor allem dadurch aus, dass es stark interessengesteuert ist. Das bedeutet, kirchliche Informationen und religiöse Themen werden nur dann wahrgenommen, wenn die User sie gerade brauchen und selbst gesucht haben. Und das tun sie nicht besonders intensiv: Nur 7 Prozent der Katholiken suchen gezielt nach Beiträgen zu Glauben und Kirche. Spezielle Internetseiten, die sich mit Glauben und Religion beschäftigen, werden von 1 Prozent häufig und 7 Prozent ab und zu genutzt.
In der Corona-Pandemie ist es zu sehr vielen kreativen und spontanen digitalen Aufbrüchen gekommen, viele Pfarrgemeinden haben Social Media und das Streamen von Gottesdiensten für sich entdeckt, aber vielerorts lässt die Euphorie schon wieder nach. Das liegt auch an verbreiteter kommunikativer Unprofessionalität und zu wenigen Ressourcen. Kommunikationsexperte Lars Rademacher rät: Man müsse den Mut haben, „die noch bestehenden Ressourcen zu bündeln, in Training und Entwicklung zu investieren und die Kommunikationshaltung grundlegend zu verändern.“
Diesen Mut haben wir, liebe Leserinnen und Leser! Daran arbeiten wir jede Woche in den Ausgaben von CHRIST IN DER GEGENWART, aber auch intensiv im Hintergrund, um Sie künftig nicht nur gedruckt, sondern auch digital gut zu begleiten – wann immer Sie uns suchen, wann immer Sie uns brauchen. Denn wir haben nicht nur den Mut, sondern auch die Überzeugung, dass sich das Ringen mit und in der Kirche im Abwärtstrend nach wie vor lohnt – und dafür ist der MDG-Trendmonitor ein hilfreicher Kompass genau zur rechten Zeit.
Der MDG-Trendmonitor Religiöse Kommunikation 2020/21 erscheint im Verlag Herder. Er ist auch als PDF-Datei für 34,99 € erhältlich.