Buchrezension zu Hans-Lukas Kieser: Talât PaschaDen Mythos entschärfen

Der Völkermord an den Armeniern von 1915/16 reißt immer noch Wunden – weil die Türkei ihre beklemmende Geschichte nach wie vor verdrängt. Hier hilft jede Aufklärung weiter, auch dieses Buch des Schweizer Historikers Hans-Lukas Kieser.

Die Moscheen sind unsere Kasernen /Die Kuppeln unsere Helme/Die Minarette sind unsere Bajonette/Und die Gläubigen unsere Soldaten.“ Wer dieses militante Gedicht des türkischen Ultranationalisten Ziya Gökalp (1876– 1924) aus dem Jahr 1912 zitierte, wurde in der Türkei lange Zeit mit Gefängnis bestraft. So erging es selbst dem jetzigen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan, der für dieses Vergehen 1998 zu zehn Monaten Haft verurteilt wurde. Doch bis heute hat Erdogan unverdrossen dieses Gedicht propagandistisch in seinem Repertoire.

Der Geist der Verse beschwört die letzte Phase des spät-osmanischen Reichs, kurz vor dem Ersten Weltkrieg. Es war im politischen Alltag eine Zeit unversöhnlicher Polarisierungen und Vernichtungswut. In diesem Klima voller Gewalt und extremer Ausgrenzungsideologie bereitete der letzte osmanische Großwesir Talât Pascha (1874–1921) den Völkermord an den Armeniern von langer Hand vor und organisierte ihn. Zusammen mit den revolutionären Jungtürken wollte er vom untergehenden Osmanischen Reich retten, was zu retten war.

Eine beklemmende Geschichte

Das bedeutete konkret, Anatolien musste türkisch (ohne Kurden und Griechen) und islamisch (ohne Christen) werden. Am Ende verloren etwa 1,5 Millionen Menschen ihr Leben. Diese radikal ethnonationalistische Revolution vollendete zwischen den Weltkriegen Kemal Atatürk. Er brachte auch das Kunststück fertig, die oberflächlich säkulare Türkei strategisch nach Westen auszurichten, ohne aber das vergiftete Erbe der zentralen Gründungsideologie zu entschärfen.

Hans-Lukas Kieser, Schweizer Historiker mit Professur in Australien, breitet diese Geschichte in seinem neuen Buch detailgenau aus. Er zeigt, dass es zur historischen Entwicklung Alternativen gegeben hätte. Zugleich widerspricht er der These von der Epochenzäsur der Gründung der türkischen Republik durch Atatürk. Kieser arbeitet dagegen die Kontinuität vom letzten Sultan Abdulhamid über Talât Pascha und Atatürk bis hin zu Erdogan heraus. Es ist eine beklemmende Geschichte. Denn Christenfeindlichkeit, Islamismus, Panturkismus, Ultranationalismus und Autoritarismus durchziehen diese Epoche bis heute. Entstanden ist eine zerrissene Gesellschaft mit der ständig drohenden Gefahr tödlich polarisierender Politikstile. Vor allem aber verhindert der verdrängte Genozid an den Armeniern bis heute die Entwicklung der Türkei zu einem existenzfähigen Verfassungsstaat mit einer multiethnischen und multireligiösen Bevölkerung. „Die Demokratie ist nur der Zug, auf den wir aufspringen, bis wir am Ziel sind“, hat Recep Tayyip Erdogan einmal ganz offen erklärt.

Eine nötige Zumutung

Hans-Lukas Kieser geht es nicht darum, Talât Pascha und seine Erben – wie es heute en vogue ist – moralisch zu verurteilen. Ihm geht es darum, den Gründungsmythos der Türkei samt seiner „Helden“ historisch zu entmythologisieren und damit zu entschärfen. Der Blick in die historischen Abgründe, die „jungtürkische Rumpelkammer voller Leichen“ (Kieser), ist dabei kein Selbstzweck, sondern eine nötige Zumutung für diesen Lernprozess. „Aufklärung“ lautet das Stichwort. „Wahrheiten haben die schlechte Angewohnheit, irgendwann ans Licht zu kommen“, sagt ein türkisches Sprichwort.

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