Rund vier Wochen, nachdem Ungarn mit seinem Homophobie-Gesetz für entsetztes Aufschnappen gesorgt hat, ist es jetzt wieder an Polen, die EU zu provozieren: Das Verfassungsgericht hatte Anfang Juli geurteilt, dass eine Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs zur Disziplinarkammer für Richter in Polen keine Gültigkeit habe. Die Proteste kamen lautstark und reflexhaft: Polen untergrabe die Prinzipien der EU, Rechtsstaatlichkeit dürfe nicht nur ein Lippenbekenntnis sein, ein „Europa à la carte“ könne nicht funktionieren.
Kalkulierte Verletzungen
Das reicht nicht. Große Worte perlen an den Orbáns und Kaczyńskis ab. Wahrscheinlich lachen sie sich sogar ins Fäustchen, weil sie genau wissen, wie weit sie gehen können mit ihren kalkulierten Verletzungen der gemeinsamen europäischen Wertebasis.
Aber was ist dann die richtige Antwort? Ein spontaner Impuls ist sicherlich: Man müsste Ungarn und Polen aus der EU werfen. Durch Artikel sieben des EU-Vertrags ist eine Suspendierung theoretisch möglich, faktisch jedoch kaum durchsetzbar, weil die schwerwiegende und anhaltende Verletzung der Grundwerte der EU einstimmig festgestellt werden müsste. Es wäre auch politisch nicht klug. Für die Ost-Erweiterung der EU, als im Jahr 2004 neben Ungarn und Polen acht weitere osteuropäische Staaten der Union beitraten, gab es ja gute Gründe. Die Teilung Europas sollte nach dem dunklen 20. Jahrhundert nun endgültig überwunden werden, der Kontinent wurde mit der Erweiterung politisch und wirtschaftlich bedeutender.
Was man tun könnte
Das zählt auch heute noch: Globale Herausforderungen wie der Klimawandel, die Pandemie, Migration oder der Aufstieg Chinas lassen sich selbstverständlich nicht mit nationalen Rückbesinnungen bewältigen. Eine lebenswerte Zukunft, Sicherheit und Wohlstand – das alles geht nur über gemeinsame Anstrengungen aller europäischen Nachbarn. Diese existenzielle Basis hält Europa zusammen. Das glauben auch acht von zehn Polen und Ungarn. So viele halten sich voll und ganz oder teilweise für EU-Bürger.
Allerdings haben sie sich auch Regierungen gewählt, die fortwährend die Wertebasis Europas angreifen. Das muss nun deutlich und schnell sanktioniert werden. Deutlich – das würde gehen: vom Einfrieren von EU-Milliarden, vor allem aus der Corona-Aufbauhilfe, bis zur Durchsetzung des neuen Rechtsstaatlichkeitsmechanismus. Schnell – das hat in der EU allerdings nur selten geklappt. Hier lähmt sich die EU seit Jahrzehnten selbst. Ein zeitgemäßes Vertragswerk, mit dem Europa agil und robust auf die Herausforderungen der Zeit antworten kann, das ist die große Zukunftsaufgabe. Denn am Ende geht es nicht um Polen oder Ungarn, sondern um Europa.