Kaum eine Berichterstattung über die Flutkatastrophe der vergangenen Woche ist ohne einen Hinweis auf die Sintflut ausgekommen. Und auch in vielen privaten Gesprächen und Nachrichten fielen Begriffe wie „sintflutartig“ oder „wahre Sintflut“. Wen wundert es?
Beim Anblick von überschwemmten Dörfern, von kleinen Bächen, die zu reißenden Strömen wurden, erinnern wir uns an eine biblische Erzählung, die beschreibt, wie Leben durch die Gewalt von Wasser jäh zerstört wird. Die Geschichte ist benannt nach dem, was sichtbar im Gedächtnis bleibt: nicht endende Regenfälle und Wassermassen, die alles Land bedecken. Die Vorsilbe „sin“ steht für „umfassend, andauernd, immerwährend, groß“ und so wurde mit dem Wort „Sin(t)fluot“ im Althochdeutschen die alles bedeckende Flut aus der Erzählung im Buch Genesis (Gen 6,5–9,17) überschrieben. Es verwundert also nicht, wenn sich Menschen bei tagelangen Regenfällen und ansteigenden Wasserständen an eben diese „große Flut“ aus der Bibel erinnern.
Wer sich die Ereignisse aus dem Buch Genesis dann ins Gedächtnis ruft – oder vielleicht sogar noch einmal nachliest –, stellt rasch fest, dass neben den Wassermassen auch andere Bilder die Erzählung von der Sintflut prägen: die Arche, auf der Noah und seine Familie und von jedem Tier ein Paar gerettet werden. Der Regenbogen als Zeichen des Bundes zwischen Gott und seiner Schöpfung. Die Taube, die mit dem Zweig als Zeichen der Hoffnung und des neuen Lebens zurückkehrt. Fragt man Kinder nach der Sintflut-Geschichte, erzählen sie von genau diesen Motiven. Ihnen bleiben die Rettung und Gottes Bundeszeichen viel mehr in Erinnerung als das todbringende Wasser.
Für viele Erwachsene steht dagegen eher die Drohkulisse, die Auslöschung von Leben und die Idee einer göttlichen Strafe im Vordergrund. Und tatsächlich setzt die Erzählung mit der Bemerkung ein, dass die Menschen boshaft und all ihre Taten im Herzen böse sind. Auf das Handeln der Menschen reagiert Gott ganz menschlich: Ihre Boshaftigkeit schmerzt ihn.
Geschichten vom Leben
Dann setzt der Regen ein, die große Flut beginnt, und nur Noah, der Gerechte, seine Familie und von jedem Tier ein Paar bleiben am Leben. Doch schon als Gott Noah in seinen Plan einweiht, ist von einem Bund zwischen ihnen die Rede. Noch bevor dem Leben ein Ende gesetzt wird, wird von einem Neuanfang gesprochen. Schaut man schließlich auf das Ende der Erzählung, wird deutlich, worum es wirklich geht. Gott sagt von sich aus: „Ich werde nie mehr alles Leben vernichten.“ Und als sichtbares Zeichen dieser Zusage setzt er seinen Bogen in die Wolken.
Genau deshalb erzählen sich Menschen von der „großen Flut“. Nicht nur in der Bibel, sondern auch in anderen Kulturen des Alten Orients wurden Flut-Geschichten überliefert. So sehr dabei von Verwüstung und Bedrohung gesprochen wird, so sehr sind es Geschichten vom Leben. Die Sintflut-Überlieferung der Bibel läuft nicht auf das Ende des Lebens hinaus, sondern auf das Überleben, auf das Leben, das stärker ist als alle Bedrohung. Wenn Gott am Ende sich selbst dazu verpflichtet, nie wieder alles Leben infrage zu stellen, ist es sein Versprechen, die Schöpfung zu erhalten. Diese Aussage liegt der Sintflut-Erzählung zu Grunde. Die Menschen Israels haben in ihr das Erleben von existentieller Bedrohung verbunden mit dem Glauben an einen Gott, der seiner Schöpfung ein Versprechen gegeben hat.
Wenn wir uns in diesen Tagen an die biblische Sintflut erinnern, weil die Wassermassen das Leben aus den Fugen geraten lassen und Leben auslöschen, dann ist es gut, sich auch den Rest der Erzählung ins Gedächtnis zu rufen. Obwohl es auf den ersten Blick eine Katastrophengeschichte ist, geht es im Kern um eine Beziehungsaussage. Gott hat den Menschen ein Versprechen gegeben: Er wird seiner Schöpfung nie mehr Gewalt antun.
Mit den tragischen Ereignissen der letzten Woche lässt sich also keine Drohkulisse aufbauen. Die Wassermassen sind keine Warnung biblischen Ausmaßes oder gar Strafe Gottes. Was wir erlebt haben, ist die Folge unseres Handelns, unseres Umgangs mit Gottes Schöpfung. Es sollte uns zum Umdenken bringen, wie wir mit unseren Ressourcen umgehen und wie leichtfertig wir dieses Geschenk aufs Spiel setzen und damit am Ende uns selbst bedrohen.
In einigen Jahrzehnten werden wir uns fragen, was uns von der Flutkatastrophe des Juli 2021 in Erinnerung geblieben ist. Wird man sich dann nur von Zerstörung, Verlust und Panik erzählen oder auch von Solidarität, von Menschen und Gesten, die Hoffnung gebracht haben, und von einem neuen Umgang mit der Welt, in der wir leben?