Der Missbrauchsskandal erschüttert die katholische Kirche bis in ihre Grundmauern. Wer immer sich zu dieser Katastrophe äußerte, ließ keinen Zweifel daran, dass ein Wiederaufbau nach altem Muster nicht möglich ist. Alle Versuche, das Geschehen individualistisch – allein als sündiges Verhalten der Täter gegenüber den Opfern – zu interpretieren, mussten spätestens nach dem Erscheinen der Mannheim-Heidelberg-Gießen (MHG)-Studie 2018 als zu kurz gegriffen scheitern. Erst recht sind „Erklärungen“ wie die, dass das Böse die Kirche befallen habe oder die Abkehr der 68er-Generation von der Ordnung der Moral eine wesentliche Ursache sei, unschwer als Versuch zu durchschauen, notwendigen Reformen aus dem Weg zu gehen. Es handelt sich vielmehr um ein systemisches Problem. Mit Flickarbeiten ist es nicht getan.
Die vorliegende Veröffentlichung verdankt sich einer Vortragsreihe an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Bonn im Wintersemester 2019/20. Die Beiträge analysieren und reflektieren aus theologischer Sicht und im interdisziplinären Dialog mit Soziologie und Psychologie das „traumatische Milieu“, das „missbräuchliche Machtverhältnisse voraussetzt und fördert“.
Was die Kirche verlernen muss
Nach einem einführenden Beitrag des Bonner Moraltheologen Jochen Sautermeister über die Herausforderung für die Theologie durch die MHG-Studie und einem Überblick zur Aufarbeitung und Prävention sexuellen Missbrauchs in der katholischen Kirche (Andreas Jud, Marion Jarczok) zeigt der Pastoraltheologe und Psychologe Wolfgang Reuter, wie durch die Spaltung von Ideal und Realität in der Kirche die Entwicklung eines traumatischen Milieus begünstigt wird.
Anregend ist der Ansatz des Tübinger Theologen Michael Schüßler „Drop the tools“ (in etwa: „Wirf die bisherigen Werkzeuge weg“). Er legt dar, was die Kirche verlernen muss, um Risikostrukturen zum Besseren zu verändern. Dazu gehören etwa die Pastoralmacht des Klerikalismus, die Sexualfixierung oder der Pflichtzölibat.
Oliver Wintzek, Fundamentaltheologe aus Freiburg, bricht das System der Gottesgewissheit auf, das in der herkömmlichen Definition von Offenbarung und kirchlichem Lehramt als „übergriffige Ermächtigung“ gesehen werden muss. Dass durch das Kirchenrecht Macht ausgeübt wird, leuchtet ein. Weniger wird reflektiert, mit welchem Recht die Kirchenmacht agiert und wer sie kontrolliert, da es keine Gewaltenteilung gibt. Das behandelt die Bochumer Kirchenrechtlerin Judith Hahn.
Idealisierungen abbauen
Pastoralpsychologische Überlegungen steuert Ulrich Feeser-Lichterfeld (Paderborn) bei. Von der systemischen Organisationsberatung her will er Hilfen für die Verhinderung von Missbrauch aufzeigen. Besonders informativ ist auch das abschließende Kapitel des früheren Münchener Moraltheologen Konrad Hilpert. Er legt dar, wie sich die Diskussion über den Missbrauch in der Theologie entwickelt hat. Als Fazit steht am Ende: Sexueller Missbrauch ist als Machtmissbrauch zu begreifen, der systembedingt ist. Dem Leid der Opfer muss die größte Sorge gelten. Als weiteres Anliegen ist das Thema „Macht“ in der Kirche stärker zu reflektieren. Idealisierungen vor allem der Priester sind abzubauen. All das sind deutliche Anfragen an eine Kirche, die es mit Reformen ernst meint.