Bundestagswahl 2021Wo machen Sie Ihr Kreuzchen?

In acht Wochen wählt Deutschland einen neuen Bundestag. Die Kirchen sollten sich dabei mit Wahlempfehlungen zurückhalten. Orientierung kann aber die Christliche Soziallehre bieten. Die „Katholische Sozialwissenschaftliche Zentralstelle“ hat die Wahlprogramme der großen Parteien aus dieser Perspektive untersucht. Lesen Sie hier exklusiv einen Einblick in die aktuelle Analyse – zu Fragen von Lebensschutz, Ehe und Familie.

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Die Zeit der „Wahl-Hirtenbriefe“ ist vorbei. Noch im Jahr 1980 bezogen die deutschen Bischöfe in einem solchen Dokument vor der Bundestagswahl Position zu politischen Streitfragen. An erster Stelle ging es den Bischöfen damals um den Schutz des ungeborenen Lebens sowie um Ehe und Familie. Das Dokument schlug hohe Wellen: Auch innerkirchlich wurde es als ungebührliche klerikale Einmischung und indirekte Wahlempfehlung für die Unionsparteien betrachtet. Damals wie heute brauchen mündige Christen keine bischöflichen Wahlempfehlungen. In den Augen vieler haben sich die religiösen Autoritäten in einer liberalen, offenen Gesellschaft aus dem öffentlichen Diskurs herauszuhalten – Religion sei Privatsache. Die aktuelle Vertrauenskrise der Kirche trägt ebenfalls dazu bei, dass Kirche als „Moralagentur“ kaum gefragt ist. Doch ist der Ruf der katholischen Kirche auch angeschlagen, so wird die christliche Ethik der Nächstenliebe dennoch hochgeschätzt. Christliche Nächstenliebe greift aber auch aus auf die Frage nach einer gerechten Gesellschaft.

Die Soziallehre ist keine Blaupause für die perfekte Gesellschaft, die es „jenseits von Eden“ nie geben wird. Sie ist eine Baustelle. Man darf von ihr keine festgezurrten Antworten erwarten.

Mit ihrer Soziallehre macht die Kirche ein Orientierungsangebot dazu. Sie besitzt damit einen sozialethischen Schatz, den sie nicht verstecken sollte: Als offenes Lehrgefüge bietet die katholische Soziallehre allen Menschen guten Willens einen Fundus an orientierenden Werten und Prinzipien. Die bekanntesten sind Personalität, Gemeinwohl, Solidarität, Subsidiarität und Nachhaltigkeit. Oberster Maßstab ist die menschliche Person, geglaubt und gedeutet als Ebenbild Gottes. Die Gesellschaft ist für den Menschen da – nicht umgekehrt. Die Unantastbarkeit der Würde des Menschen hat absoluten Vorrang und ist Ausgangs- und Fluchtpunkt der Soziallehre. Diesem christlich-ethischen Fundament entspricht die Demokratie als politische Lebensform der Freiheit sowie der gesellschaftliche Pluralismus als Ausdruck dieser Freiheit, wie das letzte „Gemeinsame Wort der Kirchen zur Demokratie“ 2019 unterstrichen hat. Die Soziallehre ist keine politische Ideologie und keine Blaupause für die perfekte Gesellschaft, die es „jenseits von Eden“ nie geben wird. Sie ist eine Baustelle, auf der immer gearbeitet wird. Man darf von ihr deshalb keine festgezurrten Antworten erwarten. Eine der katholischen Soziallehre verpflichtete politische Ethik versucht, der Komplexität gesellschaftlicher Probleme Rechnung zu tragen. Sie maßt sich nicht an, zu allen Fragen eine Lösung parat zu haben, sondern will die hinter den politischen Sachfragen liegenden grundsätzlichen Orientierungsfragen beantworten. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.

Eine erste Hilfe möchte die von der „Katholischen Sozialwissenschaftlichen Zentralstelle“ in Mönchengladbach im Auftrag der „Katholischen Erwachsenenbildung Sachsen“ erstellte Analyse der Grundpositionen der sechs derzeit im Bundestag vertretenen Parteien zur Bundestagswahl anbieten. Darin werden die Themenfelder Wirtschaft und Soziales, Coronapolitik, Innere Sicherheit, Entwicklungszusammenarbeit, Migrationspolitik, Klimapolitik, Bildungs- und Religionspolitik untersucht. Ebenso werden in der Analyse die Positionen der Parteien zu den brisanten Top-Themen des Wahlhirtenbriefs von 1980 unter die Lupe genommen: Familie und Lebensschutz. Am Beispiel dieses Themenfeldes soll nachstehend ein Einblick in die Wahlprogrammanalyse gegeben werden.

Ehe und Familie sind nach katholischer Soziallehre Keimzelle der Gesellschaft. Ganz im Sinne des Personalitätsprinzips geht es in der Soziallehre darum, dass Ehe und Familie eine wesentliche Voraussetzung der personalen Entfaltung des Menschen sind. Durch die natürliche Zuneigung in stabilen familiären Bindungen werden wir in unserer Einzigartigkeit anerkannt sowie zur Übernahme von Verantwortung befähigt und erzogen.

Auch in der Gesellschaft genießt die Familie ungebrochene Wertschätzung. „Familie“ wird jedoch 2021 oft anders verstanden als 1980. Die Familienformen sind dynamischer und diverser geworden. Die Entwicklung gilt es ganz unaufgeregt zur Kenntnis zu nehmen und sich als „Kirche in der Welt von heute“ (so eine Formulierung des Zweiten Vatikanischen Konzils) dazu konstruktiv zu verhalten. Bekanntermaßen tut sich Kirche damit schwer. Was als Ehe und Familie anerkannt werden soll, darüber gibt es auch innerkirchlich Streit. Viele sind längst für die Anerkennung und Wertschätzung aller Formen von Liebe und Treue zwischen zwei erwachsenen Menschen. Die Wahlprogrammanalyse versucht, dem gerecht zu werden, indem sie in Fragen der Familienethik die behutsame lehramtliche Akzentverschiebung seit dem Schreiben Amoris laetitia von Papst Franziskus mitvollzieht. Auch Menschen, die nicht in einer klassischen Ehe leben, können demnach in der Liebe, die sie verbindet, „die Liebe Gottes widerspiegeln“ (Nr. 294). Dem entspricht, dass es in Zeiten einer Pluralisierung der Lebens- und der Familienformen sozialethisch geboten ist, auf diese Entwicklungen mit geeigneten politischen Rahmenbedingungen zu reagieren.

Beim Blick in die Wahlprogramme fällt zunächst auf: Alle Parteien setzen sich für die Förderung von Familien ein. Die Schwerpunkte unterscheiden sich aber deutlich.

Beim Blick auf die Wahlprogramme der Parteien fällt zunächst auf: Alle sechs Parteien setzen sich in irgendeiner Form für die Förderung von Familien ein. Dabei weckt das Programm der AfD vordergründig den Anschein, eine besonders große Nähe zum klassischen christlichen Familienbild zu haben. Doch nach dem Bekenntnis „zur Familie als Keimzelle unserer Gesellschaft“ wird dieses sogleich polemisch abgegrenzt vom Feindbild der „linksgrünen Ideologie, die die Institution Familie aus ideologischer Motivation heraus diskreditiert, um sie durch andere Leitbilder zu ersetzen.“ Die bisherige Politik sei „familienzersetzend“. Auf dem Fuße folgt das Narrativ der „demografischen Katastrophe“, die mit der Sorge um einen vermeintlichen Zusammenbruch der eigenen kulturellen Identität verbunden wird. Darin deutet sich der bevölkerungspolitische Einschlag der Familienpolitik dieser Partei an. Das dahinterliegende Menschenbild ist deshalb mehr als fragwürdig. Man sollte also skeptisch sein: Der familienpolitische Entwurf der AfD wirkt wie ein Köder im Schaufenster, mit dem die Partei konservativen Katholiken das Kreuzchen auf dem Wahlzettel entlocken möchte.

CDU/CSU setzen sich eine familienfreundliche Politik zum Ziel. Welches Verständnis von Ehe und Familie dem zugrunde liegt, wird nicht eigens im Wahlprogramm erwähnt. Der familienpolitische Fokus liegt insbesondere auf Maßnahmen zur Entlastung von Familien sowie auf der Verbesserung der Vereinbarkeit von Familie und Beruf. In derartigen familienpolitischen Fördermaßnahmen sind sich die Parteien auch im Grundsatz einig. Alle streben Modelle von familienfreundlichen Arbeitszeitflexibilisierungen und steuerlichen Erleichterungen an. Die Grünen, SPD und Die Linke fordern darüber hinaus eine Kindergrundsicherung.

Zur Frage, welche Gemeinschaftsformen neben der klassischen Familie institutionalisiert werden sollen, findet sich im Wahlprogramm der Partei Die Linke beispielsweise die Idee eines „Wahlverwandtschaftsrechts“. In ähnlicher Stoßrichtung möchte etwa die FDP das Rechtsinstitut einer „Verantwortungsgemeinschaft“ einführen. Damit sollen nicht miteinander verwandte Menschen sich frei dazu entschließen können, wie in einer Familie füreinander Verantwortung zu übernehmen. Es wäre zwar wichtig, dass daraus keine Abwertung der klassischen Familie folgt, aber solche Einzelmodelle kann eine Analyse auf Grundlage der Soziallehre nicht bewerten. Bei politischen Sach- und Detailfragen geht es um sachgerechte Lösungen. Die Analyse bleibt deshalb auf der sozialethischen Grundsatzebene, von der aus man sich eine eigene Meinung bilden kann.

Blickt man darüber hinaus auf das Feld des Lebensschutzes, gilt nach wie vor, dass das Verständnis der Kirche vom Menschen als Person – und zwar von Anfang an – mit weitgehenden Liberalisierungen insbesondere des Schwangerschaftsabbruchs und des assistierten Suizids unvereinbar ist.

Abgesehen von CDU/CSU positionieren sich alle sechs Parteien in der einen oder anderen Weise zur derzeitigen rechtlichen Regelung des Schwangerschaftsabbruchs in den Paragraphen 218 und 219 des Strafgesetzbuches. Daher scheint eine erneute Debatte mindestens über den Paragraph 219a, das sogenannte Werbeverbot für Abtreibungen, in der kommenden Legislaturperiode ins Haus zu stehen. Die AfD setzt sich als einzige Partei ausdrücklich für einen Erhalt der momentanen Regelung zum Schwangerschaftsabbruch ein und positioniert sich klar dafür, dass die Schwangerschaftskonfliktberatung zum Ziel haben müsse, das Leben zu schützen.

Die FDP fordert eine Abschaffung des Paragraphen 219a. Die Grünen, die SPD und Die Linke sprechen sich ebenfalls dafür aus und halten zudem fest, dass der Schwangerschaftsabbruch überhaupt nicht im Strafrecht geregelt werden sollte. Die letztgenannten Parteien setzen sich zudem dafür ein, dass die medizinische Versorgung mit Möglichkeiten zum Schwangerschaftsabbruch flächendeckend als Grundversorgung gewährleistet sein muss.

Der Vorsitzende der Kommission für gesellschaftliche und soziale Fragen der Deutschen Bischofskonferenz, der Essener Bischof Franz-Josef Overbeck, hat in Reaktion auf den im Europäischen Parlament beratenen „Matić-Bericht“ (vgl. CIG Nr. 28, S. 2) die bioethische Position der Kirche jüngst bekräftigt: „Im Zentrum unserer Sorge steht der Schutz der unantastbaren, unveräußerlichen und gleichen personalen Würde aller Menschen. Das umfasst den Schutz von Frauen vor Ausbeutung, Unterdrückung und Gewalt sowie die Verteidigung ihrer körperlichen und seelischen Unversehrtheit, ihrer Würde und ihrer Rechte. Es umfasst darüber hinaus den Schutz des ungeborenen Lebens, denn auch dem ungeborenen Kind kommen von Anfang an Menschenwürde, ein Recht auf Leben und ein eigenständiger Schutzanspruch zu. Das Recht auf Leben ist dabei dasjenige unter den Menschenrechten, ohne das die anderen Rechte nicht zur Entfaltung kommen können.“ Zugleich stellt er sich unmissverständlich gegen die Vereinnahmungsversuche von, „Populisten und Extremisten,… die mit ihren Parolen zum Lebensschutz eigennützig nur vermeintlich christliche Positionen vertreten, die sie in anderen Kontexten nur zu gerne ignorieren.“

Ein ähnlicher Zugang ergibt sich im Blick auf die Frage nach dem assistierten Suizid. Aus katholischer Sicht ist dieser zwar grundsätzlich abzulehnen. In Deutschland ergibt sich aber aus dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 26. Februar 2020 eine Verpflichtung des Staates, den assistierten Suizid rechtlich zu regeln. Es stellt sich also die Frage, wie mit dem Urteil umzugehen ist.

Man darf es sich nicht einfach machen, indem man assistierten Suizid verbietet, ohne Unterstützungsangebote auszubauen. Hospiz- und Palliativarbeit sind zu fördern.

Die AfD positioniert sich zu legalem assistiertem Suizid nicht, sondern stellt in ihrem Programm fest: „Der Prozess des Sterbens ist durch die bewährte Palliativmedizin und eine passive Sterbehilfe zu begleiten.“ Die Unionsparteien setzen bei den Regelungen dazu auf eine „lebenbejahende Beratung“ und eine flächendeckende Versorgung mit Palliativ- und Hospizmedizin als Gegenmaßnahme zu einer Kommerzialisierung der Sterbehilfe. Die Grünen setzen sich ebenfalls für eine flächendeckende Versorgung mit Palliativmedizin und Hospizen ein, machen sich zugleich aber für ein „Recht auf selbstbestimmtes Sterben“ stark. Die FDP spricht sich für ein liberales Sterbehilfegesetz aus, äußert sich aber nicht weiter zu Fragen der Beratung. SPD und Die Linke positionieren sich in ihren Programmen hierzu nicht.

Staat und Gesellschaft haben nach katholischer Soziallehre den Auftrag, Lebensverhältnisse zu schaffen, dass Menschen auch in Krankheit und Leid einen lebenswerten Sinn in ihrem Leben entdecken können. Entscheidend ist es, die Bedingungen am Lebensende erträglich zu gestalten und es sich nicht einfach zu machen, indem man assistierten Suizid verbietet, ohne Unterstützungsangebote auszubauen. Insbesondere Hospiz- und Palliativarbeit sind zu fördern.

Unsere Analyse hat das Ziel, denjenigen eine sozialethische Orientierungshilfe anzubieten, die die Grundsätze der katholischen Soziallehre bei ihrer Wahlentscheidung mitberücksichtigen und sich auf dieser Grundlage einen Überblick über die Kernpositionen der Wahlprogramme verschaffen möchten. Es liegt dem Text jedoch fern, eine Wahlempfehlung zu geben. Es kommt auf die freie Entscheidung der Wählerin und des Wählers nach bestem Wissen und Gewissen an. Das bedeutet auch Verantwortung. Nicht nur für Politiker, auch für uns Staatsbürger sollte daher gelten, das Gemeinwohl vor den eigenen Interessen zu sehen, Kompromisse zu akzeptieren und den Respekt vor Andersdenkenden und Anderslebenden zu wahren. Auch braucht es den Mut zur Kontroverse in den politischen Sachfragen. Das „Gemeinsame Wort der Kirchen zur Demokratie“ nennt die entsprechende Tugend die „demokratische Sittlichkeit“.

Die vollständige Analyse ist zu finden unter: www.ksz.de

 

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