Im Herbst des Jahres 1841 reiste der junge Historiker Georg Waitz durch Sachsen und Thüringen, um in Bibliotheken und Archiven nach einer Handschrift des mittelalterlichen Geschichtsschreibers Lampert von Hersfeld (gest. 1085) zu forschen. In der Domstiftsbibliothek von Merseburg an der Saale entdeckte er in einer sechslagigen theologischen Sammelhandschrift zwei althochdeutsche Zaubersprüche aus dem 10. Jahrhundert, deren Einzigartigkeit ihm sofort auffiel und die heute als „Merseburger Zaubersprüche“ berühmt sind. Waitz behielt seine Entdeckung nicht für sich, sondern suchte Jacob Grimm auf, der sich als Sprach- und Literaturwissenschaftler einen Namen gemacht hatte und heute als Begründer der Germanistik gilt.
Als Waitz 1863 eine Würdigung auf den verstorbenen Gelehrten hielt, erinnerte er sich mit Vergnügen an den „Eindruck, den die von mir in Merseburg aufgefundenen Gedichte des deutschen Heidenthums auf Grimm“ gemacht hatten: „Er las sie wieder und wieder, erkannte natürlich gleich und viel besser als ich die Wichtigkeit des Fundes, und sprach seine Freude in der liebenswürdigsten Weise aus. Seine Gelehrsamkeit und sein Scharfsinn boten auch die Mittel zur Erklärung und Verwertung des Inhalts, die gerade für die Mythologie so merkwürdigen Denkmäler, wenn auch spätere Forschung einiges ergänzt oder anderes bestimmt hat.“
Mit den Zaubersprüchen, ihrer Übersetzung und wissenschaftlichen Einordnung hatte Grimm am 3. Februar 1842 seine Antrittsvorlesung bei der Königlich-Preußischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin bestritten. Er würdigte sie als „Kleinod …, welchem die berühmtesten Bibliotheken nichts an die Seite zu setzen haben“. In einem Brief gestand er sogar einmal, der Fund habe ihn „kindisch gefreut“: „Es sind nur wenige Verse, und darunter noch sehr dunkle, deren Deutung auf bessern Bescheid wartet. Auf jeden Fall wird dadurch der Zweifel an der allgemeinen Ausbreitung des Systems von Göttern, das wir nordische Mythologie nennen, abgeschnitten.“
Rätsel geben die Schlüsseldokumente bis heute auf. Geborgen liegen die ältesten in Deutschland erhaltenen althochdeutschen Beschwörungsformeln weiterhin in der Domstiftsbibliothek Merseburg. Ein Faksimile wartet in der Vorhalle des Doms auf Besucher, die in die Welt der Magie vor über 1000 Jahren eintauchen wollen. Dass ausgerechnet eine christliche Kultstätte paganes („heidnisches“) Kulturgut beherbergt, entbehrt nicht einer gewissen Ironie oder ist – positiv gedeutet – ein Zeichen religiöser und kultureller Toleranz.
Weniger tolerant reagierten bekanntlich manche Gläubige während der Amazonassynode 2019 auf die Pachamama-Figuren, die Andenvölker als Symbol der Fruchtbarkeit und als Mutter Erde verehren. Die in der römischen Kirche Santa Maria in Transpontina ausgestellten Holzfiguren, die eine nackte schwangere Frau darstellen, wurden gestohlen und in den Tiber geworfen. Papst Franziskus entschuldigte sich bei den indigenen Völkern für den Vorfall, und der Vatikan ließ verlautbaren, diese Aktion widerspreche dem Geist des Dialogs.
Die Liebe indigener Christen zu ihrer Pachamama, die für viele Maria verkörpert, erhellt ein Phänomen, welches das Christentum seit seinen Anfängen begleitet und die Herausforderungen der Transformation zeigt. Schon Paulus warnte vor religiösen Mischformen. Denn viele neu- bekehrte Christen taten sich schwer, mit ihren offiziellen und familiären religiösen Traditionen völlig zu brechen. Im Ersten Korintherbrief (8,7–10) mahnte daher der Völkerapostel: „Einige essen, weil sie bisher an die Götzen gewöhnt waren, das Fleisch noch als Götzenopferfleisch und so wird ihr schwaches Gewissen befleckt. Speise aber wird uns Gott nicht näherbringen. Wenn wir nicht essen, verlieren wir nichts, und wenn wir essen, gewinnen wir nichts. Doch gebt Acht, dass diese eure Freiheit nicht den Schwachen zum Anstoß wird. Wenn nämlich einer dich, der du Erkenntnis hast, im Götzentempel beim Mahl sieht, wird dann nicht sein Gewissen, da er schwach ist, verleitet, auch Götzenopferfleisch zu essen?“
Die frühe Kirche verhielt sich pastoral klug und wandelte mit der Zeit beliebte Götterfeste in christliche Feiertage um. So „ersetzte“ das Weihnachtsfest die römischen Saturnalien, eine Art Karneval, der jährlich ab dem 17. Dezember begangen wurde, sowie die Feier des Sol Invictus zur Wintersonnenwende am 25. Dezember. Der Kampf der Kirche gegen pagane Traditionen und religiöse Zweigleisigkeit setzte sich in der Spätantike und im Mittelalter fort. Die mittelalterliche Gesellschaft des 9. und 10. Jahrhunderts war von einer Spannung zwischen einer monastisch-klerikalen Elite und einer Bevölkerung gekennzeichnet, deren Frömmigkeit häufig noch vorchristlich geprägt und anfällig für magische Vorstellungen war.
Warum schrieb ein Mönch die Sprüche in ein Messbuch?
Umso mehr verwundert es, dass im ersten bis zweiten Drittel des 10. Jahrhunderts wohl ein Mönch die beiden Zaubersprüche auf das leere Vorsatzblatt eines lateinischen Sakramentars aus dem Fuldaer Kloster geschrieben hat, das aus dem 9. Jahrhundert stammte. War er so kulturbeflissen, dass er den Ausdruck paganer Frömmigkeit für die Nachwelt bewahren wollte? Könnte es sein, dass er unabhängig vom Inhalt die Alltagssprache, das Theodisk („Deutsch“, eigentlich: „zum Volk gehörig“), gegenüber dem Latein der Gelehrten dokumentieren wollte, welches er selbst sprach? Oder beabsichtigte er, mit der Kraft des Sakramentars die Magie der Sprüche zu brechen? Wollte er schlicht den freien Platz nutzen? Oder konnte auch er sich dem Zauber der metrischen Texte nicht völlig entziehen? War er etwa ein verkappter Synkretist? Sicher wusste er, wie beliebt die Sprüche waren, und dass es der geballten Kraft christlicher Gebete bedurfte, sie zu entzaubern. Entstanden sind die Formeln frühestens zur Zeit des Bonifatius, also vor 750.
Die Merseburger Zaubersprüche sind zweiteilig. Sie bestehen aus einer historiola, einer mythisch angehauchten Geschichte, die einen zurückliegenden Vorfall erzählt, und der Beschwörungsformel, der incantatio, die Rettung und Heilung bewirken soll. Die Verse, teils Stabreime mit der Neigung zum Endreim, legen nahe, dass es sich um einen Sprechgesang handelt.
Der erste Spruch, ein sogenannter Lösungszauber, gehört formal zu den Dreifrauensprüchen. Wer sich hinter den Zauberinnen, den idissi, verbirgt, ist strittig. Dämonische Walküren scheinen sie nicht zu sein, weil sie Gutes tun und die Fesseln lösen. Sie sind wohl auch keine Disen, die Helferinnen der kämpfenden Krieger. Manche Forscher erkannten eine Verbindung mit dem in den römischen Provinzen Gallien und Germanien beliebten Matronenkult; andere sahen in den idisi verehrungswürdige Frauengestalten oder schlicht zauberbegabte Frauen. Man vermutete einen Einfluss spätantiker Medizin auf den Zauberspruch. Marcellus von Bordeaux, ein hoher kaiserlicher Beamter, verfasste im 5. Jahrhundert ein lateinisches Rezeptbuch. Bei ihm findet sich ebenfalls das Motiv der bindenden und lösenden Jungfrauen.
Ungewiss ist auch, ob der Gefesselte die Beschwörungsformel aufsagen muss oder ob die Frauen es für ihn tun. Die magische Beschwörung aus der Ferne hat vielleicht eine Parallele im christlichen Fürbittgebet. Beda Venerabilis, Gregor von Tours und Thietmar von Merseburg berichten über die Befreiung Gefangener durch Gebete. Möglicherweise ging es auch dem Fuldaer Mönch um diese Parallele:
1. Einst setzten sich Frauen (idisi), setzten sich hierhin, dorthin,
2. Einige hefteten eine Fessel, einige hemmten das Heer,
3. Einige klaubten an der Fessel,
4. Entspring den Banden, entkomme den Feinden!
Der zweite Zauberspruch heilt die Fußverrenkung eines Pferds und hat zahlreiche skandinavische, finnische und slawische Varianten, in denen fast nur christliche Akteure vorkommen. Hinzu kommt eine Parallele in der altindischen Zauberspruchsammlung Atharwaweda. Hier geht die Heilkraft von einer Pflanze aus, die angerufen wird. Gedankenspiele lösen die Götternamen aus. So wird Phol, der Bruder der später genannten Göttin Volla, mit Balder zusammengestellt. In der nordischen Mythologie ist Balder der Gott des Lichts. Von den Göttinnen ist nur Friia eindeutig als Frau von Odin/Wotan identifiziert. Fraglich ist auch, ob die anderen Frauennamen überhaupt Göttinnen bezeichnen:
1. Phol und Wuodan ritten in das Gehölz (= Wald).
2. Da verrenkte sich Balders Pferd seinen Fuß.
3. Da besprach ihn Sinthgunt und Sunna, ihre Schwester.
4. Da besprach ihn Friia und Volla, ihre Schwester.
5. Da besprach ihn Wuodan, der das aufs Beste verstand:
6. Sei es Knochenverrenkung, sei es Blutverrenkung, sei es Gliederverrenkung,
7. Knochen zu Knochen, Blut zu Blut,
8. Glied zu Gliedern, so sollen sie fest gefügt sein.
Nach vier Zeilen Erzählung, in der sich die göttlichen Frauen vergeblich um Heilung mühen, tritt Wotan auf und hat mit seinen Heilsprüchen Erfolg. Der Götterhierarchie ist Genüge getan. Die Forschung zu Münzen und Medaillen bietet ikonographische Parallelen. Unter den 940 Stücken aus der Zeit der Völkerwanderung befinden sich Darstellungen von göttlichen Pferdeheilungen. Jahrhunderte vor der schriftlichen Fassung des Merseburger Zauberspruchs bilden sie Wotan ab, wie er ein Pferd gesundspricht.
Vom Lösungszauber zum Weltdokumentenerbe
Die Geschichte der Merseburger Zaubersprüche ist noch lange nicht zu Ende erzählt. Die zauberhaften Boten einer vergangenen Welt sollen UNESCO-Weltdokumentenerbe werden. Der Antrag, ein Gemeinschaftsprojekt des Landes Sachsen-Anhalt, der Vereinigten Domstifter zu Merseburg und Naumburg und des Kollegiatstifts Zeitz ist formuliert und wartet auf die Entscheidung des Internationalen Komitees, mit der in gut drei Jahren gerechnet wird. Gut Ding will Weile haben, ermutigt eine religiös neutrale Sentenz. Dass es gut werden kann, zeigen die beiden „Weltdokumente“, über die sich nicht nur die Sachsen-Anhalter bereits jetzt freuen: die frühen Schriften der Reformationsbewegung und die Himmelsscheibe von Nebra. Aber das ist eine andere Geschichte.