Religion kann zu etwas werden, das mit Religion nichts mehr zu tun hat. Ich benutze am liebsten den Vergleich mit einem Vulkan. Wir haben diesen Berg, und aus ihm bricht die religiöse Erfahrung hervor wie bei einem Vulkanausbruch. Da ist alles noch lebendig und flüssig, Licht und Feuer… Und dann fängt es an, herunterzufließen. Je weiter dieser Lavastrom ins Tal kommt, umso dicker wird er und umso kälter, und ehe man sich’s versieht, ist das lebendige Feuer völlig mit Lava überdeckt, durch die man kaum noch durchkommt.
Deshalb bedarf es eines großen Heiligen, wie es etwa der heilige Franziskus war, der hier durchstößt und das lebendige Feuer wieder hervorschießen lässt, das ursprünglich da war… Aber nicht nur der heilige Franziskus: Wir alle tragen die Verantwortung dafür, dass unsere Religion wieder religiös wird. Und das bedeutet, dass wir ständig diese harte Kruste von Dogmatismus, Moralismus und Ritualismus durchstoßen müssen, um die Religion wieder auf die religiöse Erfahrung zurückzuführen und mit ihr zu verbinden. Keiner von uns ist davon ausgenommen.
David Steindl-Rast in: „Verbunden trotz Abstand. Von Gipfelerlebnissen und mystischen Erfahrungen“ (gikPress, Kassel 2021)