Die Bilder verzweifelter Afghanen, die nach der Machtübernahme der Taliban aus Angst um ihr Leben Flugzeuge stürmten, erinnern an schreckliche Vor-Bilder aus Südvietnam: als die Amerikaner, geschlagen im Krieg, überstürzt abzogen. Wieder stellen sich realpolitische Fragen. Erneut sind militärische Interventionsversuche, noch dazu mit dem Anspruch, nachhaltig autokratische Systeme zu Demokratie erziehen zu können, gescheitert. Besonders betrifft das Stammeskulturen, wie unter anderem Somalia oder Libyen gezeigt hatten. Der Afghanistan-Einmarsch vor 20 Jahren sollte dem dschihadistischen Islam von Al Qaida den Garaus machen. Dabei hätte man aus dem sowjetischen Debakel der Okkupation in den siebziger und achtziger Jahren wissen können, wie solche Aktionen enden. Aber der Zorn nach dem islamischen Terrorakt vom 11. September 2001 machte blind.
Mittelalterlich?
Das Regime der Taliban sei „mittelalterlich“, heißt es. Solche Aussagen offenbaren, wie sehr westliche und selbst für das europäische Mittelalter falsche Muster hier noch „falscher“ auf uns völlig fremde Kulturen übertragen werden. Archaische Stammessysteme wie in Afghanistan kommen aus vorantiker, nomadischer Zeit. In den fünf Büchern Mose kann man biblisch entdecken, wie Stammeskulturen über zeitweilige Bündnisse und Rivalitäten funktionieren und überleben. Afghanistan ist ein getreues Abbild solcher Antagonismen zwischen Kooperation und Krieg, wobei die Führer sich mal auf die eine, mal auf eine andere Seite schlagen und auch wieder zusammenkommen. Trotz der einen, verbindenden Religion Islam überwiegen weltliche Machtinteressen das Spirituelle. Wahrscheinlich wird es nach Installierung einer zentralen Taliban-Herrschaft ebenfalls zu neuen Verhandlungen mit dezentralen Stammesführern kommen. Auch in Stammeskulturen kommt die Macht nicht nur aus Gewehrläufen, sondern von den „Ältesten“. Stammeskulturen kennen dafür eigene politische Verfahrenswege. Wie der Tribalismus, unter anderem in Afrika, aktuell wieder in Äthiopien, zeigt, ist die westliche Sicht von Nation dabei nicht das Maß der Dinge.
Es geschah im Abendland
Beruht die westliche Sicht von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und universalen Menschenrechten auf einer Illusion? Teilweise schon. Denn das Eigene überzeugt andere bloß durch Einsichten, die in sehr langen historischen Prozessen von unten und innen entstehen. Kulturgeschichtlich wird jetzt wieder einmal deutlich, was wir dem abendländischen christlichen Mittelalter zu verdanken haben, in dem sich die Voraussetzungen für Gewaltenteilung in den Antagonismen zwischen weltlicher und kirchlicher Herrschaft, zwischen Kaiser und Papst herausbildeten. Davon haben nichtchristliche Kulturen profitiert. Die Geschichte bleibt offen – auch in Afghanistan.