Die Fastenpredigten in der Münchener Jesuitenkirche Sankt Michael haben Tradition. Über Rahners Predigten aus dem Frühjahr 1946, drei Jahre später in erweiterter Form als Buch veröffentlicht, spricht man heute noch. Nach vier Auflagen im Innsbrucker Verlag Felizian Rauch erschienen sie seit 1958 als Taschenbuch in der Herderbücherei. 1966 gab es sogar eine zweibändige Ausgabe in Blindenschrift. Im Rahner-Gedenkjahr 2004 (anlässlich seines 100. Geburts- und 20. Todestags) erschien eine von Rudolf Hubert und Roman A. Siebenrock kommentierte Jubiläumsausgabe.
Im Vorwort informiert Rahner über den Anlass seiner Texte: „Sie waren zum größeren Teil ursprünglich Predigten, die in der Fastenzeit 1946 in München (Sankt Michael) gehalten wurden, und sie tragen die Spuren dieses Ursprungs an sich, ohne dass die Absicht bestand, diese Herkunft zu verbergen.“ Was verbirgt sich hinter dieser Andeutung? Zum einen wollte Rahner festhalten, dass das Buch, wie er später betonte, „nicht den Anspruch“ erhebt, „eine systematische Theologie des Gebetes vorzutragen“. Zum anderen wollte er klarmachen, dass es auf Predigten zurückgeht, die in einer besonderen Zeit entstanden sind und unter ganz besonderen Umständen gehalten wurden. Tatsächlich gepredigt hat Rahner nämlich – als Folge der Kriegszerstörungen der Jesuitenkirche – in einem Ausweichquartier: Die Bürgersaalkirche der Marianischen Männerkongregation, einen Steinwurf weiter westlich von Sankt Michael in Richtung Stachus, fungierte als „Sankt Michaels-Notkirche“.
1946 war ein Hungerjahr in München. Die bayerische Landeshauptstadt war zerbombt und lag in Schutt und Asche. Keine einzige Innenstadtkirche war unbeschädigt geblieben. Aber es gab nicht nur Trümmerhaufen aus Steinen und Ziegeln. Verschüttet und verstört waren auch die Herzen der Menschen nach zwölf Jahren des NS-Terrors. Die Nächte in den Bombenkellern wurden für Rahner zum Sinnbild für die verschütteten Menschenherzen, die nicht mehr zu Gott finden. Und so machte er auch einen anderen Hunger zum Thema: den Hunger nach Orientierung und nach Werten, die zuvor mit Füßen getreten worden waren. Das hatte der Jesuit, der im Oktober 1939 in Tirol von den Nazis „Gauverbot“ erhalten hatte und während des Krieges in Wien im Exil war, am eigenen Leib erlebt.
„Von der Not und dem Segen des Gebetes“ enthält acht Kapitel. Es gab aber nur fünf Fastenpredigten. Drei Texte sind also für die Veröffentlichung dazugekommen. In einem Interview sagte Rahner einmal: „Ich glaube, dass in manchen Kapiteln ,Von der Not und dem Segen des Gebetes’ wenigstens ebensoviel Theologie, denkerisch mühsam bewältigte Theologie, drinsteckt wie in den sogenannten wissenschaftlichen Werken.“ Davon ließe sich heute lernen: Theologisches Denken nimmt sich bei Rahner immer ins Gebet. An Schlüsselstellen seines Werks finden sich, wie Herbert Vorgrimler, Karl Lehmann oder Albert Raffelt stets betonten, immer wieder Gebetssammlungen. Geistliches Schrifttum entstand bei Rahner nicht erst, wenn theologisches keine Abnehmer mehr fand.
Im Rahner-Gedenkjahr 2004 bat ich Axel Wostry, Sprecher beim Bayerischen Rundfunk, acht längere Passagen aus dieser Predigtsammlung am ursprünglichen „Schauplatz“ vorzutragen, begleitet von Orgelmusik. Der Bürgersaal war voll – darunter einige wenige Zeitgenossen, die Rahner damals als junge Menschen gehört hatten, viele Rahner-Fans, die ihn in München oder Innsbruck erlebt hatten, sowie jüngere, die sich vom Ambiente anziehen ließen. „Fastfood auf dem Markt der spirituellen Esoterik bietet Rahner nicht, keine ,Transzendenz light‘!“, meinte Siebenrock, der das Karl-Rahner-Archiv seit 1985 mit aufgebaut hat, in seinem Kommentar der Ausgabe von 2004.
Es ist keine der üblichen Übertreibungen der Verlagswerbung: Hunderttausenden sind Rahners Predigten zur Glaubens-, ja zur Lebenshilfe geworden. Die Patina, die religiöse Sprache so schnell ansetzen kann und von der auch manche von Rahners frühen Texten nicht frei sind, hat seinen Predigten nichts anhaben können. Seine Sprache wirkt unverbraucht, obwohl diese Predigten vor über 76 Jahren gehalten und vor 72 Jahren erstmals veröffentlicht wurden. Eine (unterschätzte) poetische Kraft zeigt sich darin. Es ist erstaunlich, dass viele Passagen modern, ja geradezu „unheimlich“ zeitgemäß wirken. Menschen damals hatten ihre liebe Not mit dem Beten. Und wir Menschen heute haben eben auch unsere Not damit.
Weswegen, abgesehen von der wiederholten Lektüre, es immer noch und immer wieder ein Gewinn ist, einen Blick in diese Neuausgabe zu werfen: Der Bestsellerautor Anselm Grün, der 1975 eine Doktorarbeit über Karl Rahner („Erlösung durch das Kreuz“) veröffentlichte, hat ein Vorwort beigesteuert. Er schreibt, „dass nicht nur Gebildete die Gedanken Rahners verstehen. Und dennoch entdeckt man im Ringen Rahners um das Beten seine ganze Theologie.“ Und diese Bemerkung ist gleichsam ein Ritterschlag für den oft als kompliziert verschrienen Rahner: „Darin besteht für mich die Kunst Karl Rahners: den Alltag und das Alltägliche, die Durchschnittlichkeit und Banalität des Menschen zu beschreiben und mitten in der oft grauen Wirklichkeit des Lebens das Geheimnis Gottes aufleuchten zu lassen, das Geheimnis einer Liebe, die alles verwandelt.“
Ob diese Botschaft auch Menschen heute erreicht? Erst recht angesichts des tausendfachen Sterbens in Coronazeiten? Hubert Biallowons, der mit Paul Imhof seinerzeit drei Bände mit Rahner-Interviews gefüllt hat, meint in seiner an Grüns Vorwort anschließenden Einleitung entschieden: Ja! Aus einem Grund, der überzeugen kann: „Karl Rahner löst die Probleme des Betenden nicht auf.“ Dem ist zuzustimmen. „Karl Rahner ködert, wenn diese saloppe Formulierung erlaubt ist, mit der Aussicht, dass nur das regelmäßige Beten mit und gegen alle persönlichen Schwierigkeiten Voraussetzung für große spirituelle Erfahrungen ist.“ Gleichwohl ist dieser Rahner-Klassiker keine „Betriebsanleitung“ für gelingendes Beten, wie der Rahner-Experte abschließend festhält: „Mit Rahner wird man nicht fertig, mit diesem Büchlein nicht, und mit dem Beten kennt man sich nicht nur nie richtig aus, sondern … wird man auch nie fertig.“
Bete regelmäßig! Lerne das Beten! Es ist eine Gnade. Aber es ist auch eine Sache des guten Willens, eine Kunst, die geübt und erprobt sein will.