Das Leben des amerikanischen Psychiaters und Psychotherapeuten Otto Kernberg scheint den fabelhaften zehnten Vers des Psalms 91 aufs Schönste zu variieren. Kernbergs höchst aktives Leben währt mittlerweile ein Dutzend Jahre länger als die optimistischen „80 Jahr“ des Psalmisten; und das „Beste daran“ ist tatsächlich eine Arbeit, die Emsigkeit wie Klugheit erfordert, zugleich aber höchste Erfüllung bedeutet. Sein Beruf sei für ihn ein Vergnügen, so Kernberg gegenüber dem Psychiater, Theologen und Autor Manfred Lütz: „Ich bin entsetzlich neugierig zu erfahren, was in Menschen vorgeht. Und man lernt ja immer etwas Neues.“ An mehreren Tagen sprachen die beiden Seelenkundigen in New York miteinander. Das nun vorliegende Dialogbuch mit dem (grammatikalisch) etwas irritierenden Titel macht den Leser sowohl mit dem Leben des 1928 Geborenen vertraut als auch mit wichtigen Stücken seiner wissenschaftlichen und therapeutischen Laufbahn.
Seine Biographie führt zunächst in die Untiefen der europäischen Geschichte, nach Wien, wo seine jüdische Familie nach dem „Anschluss“ Österreichs es mit knapper Not schafft, über Italien nach Chile auszuwandern. Der junge Mann, der seinen Vornamen nach dem letzten Habsburger Kronprinzen erhielt, studiert in Chile und den USA Medizin, spezialisiert sich in Psychiatrie, wird an renommierte amerikanische Universitäten berufen, ist zwischen 1997 und 2001 Präsident der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung.
Diese beeindruckende Karriere setzt die Pflöcke für ein Gespräch, das nicht lediglich eine Abfolge von neugierigen Fragen und klugen Antworten ist, vielmehr – wie auf dem hinteren Buchumschlag illustriert! – beide Partner „auf die Couch legt“, von ihren Erfahrungen, Kenntnissen und auch Passionen kündet. So erfährt der Leser von Otto Kernbergs bahnbrechenden Forschungen auf den Gebieten der narzisstischen Störungen und Borderline-Erkrankungen, zugleich auch von seiner ungebrochenen Liebe zu Wien, von manch jugendlicher Dummheit und seinem Umgang mit den vielfältigsten Ausprägungen des Bösen.
Manfred Lütz hingegen versucht erst gar nicht, seinen theologischen Vorwitz hintanzustellen, was einerseits durchaus bedrängend wirkt, andererseits bei seinem Dialogpartner zu Gedankengängen führt, die ihn selbst erstaunen. Er glaube immer weniger, so Kernberg, „dass wir die Idee Gottes selber erschaffen, weil wir durch Liebe, Aggression und Konflikte doch so beschränkt sind, dass eine ewige Wahrheit nicht bloß in uns, sondern über uns realistischer ist als eine Vorstellung, dass wir uns da nur eine Ersatzfantasie schaffen“.
Mit einer Frage über die Seele beginnt der Band. Mit Fragen über den Sinn, das Glück und das Sterben endet er. Zum Glück für den Leser führen diese klassischen Themen zu Antworten, die durch Lebenserfahrung gedeckt sind. Und wenn Otto Kernberg „noch darüber nachdenken“ muss, dann zeigt er auch hier, dass Weisheit nicht selten darin besteht, auf ein letztes Wort zu verzichten.