Lange galt die Kunst als letzte Bastion des Menschen in einer durchtechnologisierten Welt. Maschinen können vielleicht genauer analysieren, in Sekundenschnelle komplexe mathematische Probleme lösen und die besten Schachspieler der Welt schlagen – aber um ein Kunstwerk zu schaffen, braucht es echte Emotion, zu der nur fühlende, lebende Wesen fähig sind. Dachte man. Jetzt kamen Musikwissenschaftler auf die Idee, eine Künstliche Intelligenz (KI) mit verschiedenen Beethoven-Stücken zu füttern und sie eine Fortsetzung zu seiner 10. Sinfonie schreiben zu lassen. Gerade wurde die künstlich verlängerte Fassung in Bonn feierlich uraufgeführt – immerhin knapp 200 Jahre nach dem Tod des Meisters.
Mäßig begabte KI?
Die Reaktionen auf das Stück sind dabei durchwachsen. „Die Unvollendete ist vollendet“, liest man in der „Zeit“. „Die Technik birgt großes Potential“, heißt es in der „Frankfurter Allgemeinen“. Thomas Schmoll, Musik-Experte beim „Spiegel“ findet dagegen wenig künstlerischen Wert in der KI-Komposition. Allerdings gibt auch er zähneknirschend zu, dass das Musikstück tatsächlich klingt, als hätte es ein Mensch geschrieben, wenn auch „wie das Werk eines mäßig begabten Beethoven-Schülers, der wie sein Meister klingen will“.
Nun bleibt abzuwarten, ob dieser Spott gerechtfertigt ist oder ob er bald so hohl klingt wie frühere Prognosen über die Beschränktheit von Computern, die sich oft genug als falsch erwiesen haben. Es gibt aber noch eine Dimension, die über das technisch Machbare hinausweist. Beethoven konnte sein Stück nicht vollenden, weil er in einer schweren Lebenskrise steckte. Neben der zunehmenden Schwerhörigkeit quälte ihn ein Tinitus, dazu kamen finanzielle Sorgen und Suchtprobleme, die ihm weiter gesundheitlich zusetzten. „Wie ein Verbannter muss ich leben“, schrieb der Komponist in einem Brief an seine Brüder. „Es fehlte wenig und ich endigte selbst mein Leben.“
Das Fragment aushalten
Angesichts solcher Aussagen gibt es dann doch noch eine echte Überraschung beim aktuellen Projekt. Die IT-Experten lesen aus den zahllosen Notizen und Manuskripten, die sie in ihre Künstliche Intelligenz eingespeist haben, „Gedanken der Spiritualität“ heraus. Aus den Aufzeichnungen spreche ein „sehr nach innen gewandter Komponist“, der sich mehr und mehr zur Kirchenmusik hingezogen fühlte und etwas aussagen wollte, das er nicht ganz in Töne fassen konnte. Dass sein letztes Stück Fragment bleibt, passt zu einem Leben voller Brüche und Leerstellen. Man sollte es dem Publikum zumuten, solche Lücken im Schaffen auszuhalten. Eine Welt, in der alle menschlichen Unvollkommenheiten maschinell ausgebügelt werden, wäre vielleicht um ein paar Musikstücke reicher, an Menschlichkeit aber deutlich ärmer.