Ein verlorener Erdteil?

Afrika – Was war, was ist, was könnte sein? Ein erfahrener Journalist bedenkt einen Kontinent aus Kontinenten.

Vierzig Jahre lang hat Bartholomäus Grill für die „Zeit“ und den „Spiegel“ aus Afrika berichtet. Nun legt der Korrespondent eine Bestandsaufnahme vor im Zusammenspiel von Erlebnissen und Begegnungen gestern und Beobachtungen und Gesprächen heute. Über die punktartige Beleuchtung einzelner Länder lässt der Journalist den Leser geradezu körperlich die Spannung spüren zwischen Verzweiflung über immerwährendes politisches, kulturelles, wirtschaftliches und menschliches Versagen und der ebenso immerwährenden Hoffnung, die aus bescheidenen Fortschritten erwächst, an denen die arme Bevölkerung allerdings kaum bis gar nicht teilhat. Deutlich wird: Der afrikanische Kontinent besteht aus Kontinenten, aus einer unermesslichen Vielfalt an Sprachen und Kulturen mit schier unerschöpflichem Reichtum, der jedoch bloß wenigen zugutekommt.

So begibt sich Grill auf die genetischen sowie kulturgeschichtlichen Spuren der Ur-Menschheit bei den – wie man früher sagte – Buschmännern, den San, in der Wüstensteppe der Kalahari. Er beschreibt beispielhaft an Tansania das Scheitern eines Sozialismus mit afrikanischem Antlitz, der einst unter Julius Nyerere viele in Unabhängigkeits-Euphorie versetzt hatte. Das Kapitel über Äthiopien und seinen Friedensstifter mit Eritrea, den Friedensnobelpreisträger von 2019 Abiy Ahmed Ali, musste am Schluss abrupt umgeschrieben werden, weil der Regierungschef plötzlich zum Kriegsherrn mutierte. Ein nigerianischer „Obama“ für Afrika landete bei Wahlen kläglich abgeschlagen auf dem Boden der Realitäten. Und was ist nur aus Südafrika geworden, das mit Nelson Mandela nach dem Abwerfen der Apartheid zum Vorbild für den ganzen Erdteil werden sollte, jedoch in die Selbstherrlichkeit von sich machtpolitisch berauschenden und ökonomisch bereichernden ANC-Funktionären abstürzte? Herrschaftskonflikte, Kleptokratie, fachliche Unfähigkeit und moralische Verderbnis halten den Reigen elitären Versagens in Gang, in dem Ex-Freiheitskämpfer meinen, sich jetzt in überreichem Maß das aneignen zu dürfen, was sie als Helden entbehrt hatten.

Grill möchte den „verlorenen Kontinent“, der blauäugig – auch kirchlich und missionstheologisch – lange als „Kontinent der Hoffnung“ gepriesen wurde, nicht verloren geben. Mit seiner genauen Beobachtungskunst sucht der Autor einen Mittelweg zwischen afrikanischen Analytikern, die den eigenen Landsleuten die Schuld an der Misere zuschreiben, und jenen, die alles Elend auf die einstigen Kolonialherren abschieben möchten. Mit den korrupten sogenannten Eliten geht der Autor schonungslos ins Gericht. Sie legen ihr angehäuftes sagenhaftes Vermögen lieber in der nördlichen Hemisphäre an, statt Investitionen in der Heimat zu tätigen.

Der Journalist kritisiert die – wie er sie nennt – „Almosenindustrie“ beziehungsweise „Hilfsindustrie“, die gern auf „Charitainment“ zurückgreift, um mit Prominenten Spenden anzulocken. Für Grill ist es pure Illusion zu meinen, so die Lage Afrikas verbessern zu können. Er verweist auf die gigantische Expansion chinesischer Interessen. „Gesteuert von einer imperialistisch auftrumpfenden Kommunistischen Partei“ investiere China im hoch beschleunigten Wettbewerb um Rohstoffe und um oft brachliegende fruchtbare Böden für die Agrarwirtschaft „Milliardensummen in die marode Infrastruktur Afrikas, in Straßen, Bahnlinien, Flug- und Seehäfen, Pipelines, Staudämme, Mobilfunknetze“ usw. „Mit seinen Megaprojekten hat China in den letzten zwanzig Jahren wirtschaftlich mehr bewegt als die westliche Entwicklungshilfe in sechzig Jahren“, so die ernüchternde Bilanz. Zudem habe die liberale Demokratie für viele Afrikaner an Attraktivität verloren, weil sie das Versprechen auf mehr Wohlstand nicht einlöste. Gefragt sei momentan eher eine „Entwicklungsdiktatur“, in der sich etliche Machthaber als „Macher“ versuchen, selbst wenn sie scheitern.

Grill bekennt sich als gläubiger Katholik. Leider bleibt im Buch die religiös-kulturelle Dimension ausgeklammert, abgesehen von wenigen Andeutungen und einem Kapitel über die rasante Ausbreitung des dschihadistischen Islamismus. Und wie ist das Versagen der Kirchen zu bewerten, durch deren Missionsschulen einst doch Afrikas Führer als „Elite“ gegangen waren? Der Schlächter Mugabe war einmal eine Verheißungsgestalt kirchlicher Entwicklungshilfswerke. Und Ruanda, wo im Völkermord 1994 Katholiken Katholiken abschlachteten und führende Geistliche in Stammeshass verwickelt waren? Grill erwähnt: „Viele Verfolger waren gläubige Katholiken, die wie ihre Opfer jeden Sonntag die Messe besuchten.“ Einzelne Beiträge befassen sich mit dem starken Bevölkerungswachstum, mit dem Klimawandel, mit der Migration.

Auch kirchlich entwicklungspolitisch Engagierten täte es gut, die zur Diskussion reizenden Beobachtungen selbstkritisch zur Kenntnis zu nehmen. Zum Beispiel: „Eine radikale Reform der Handelspolitik würde Afrika weit mehr nützen als der viel beschworene Paradigmenwechsel in der Entwicklungshilfe, die seit über einem halben Jahrhundert nur dürftige Ergebnisse hervorbringt und in vielen Ländern nur kontraproduktiv ist. Denn die Almosen beglücken oft nur korrupte Machtcliquen und lähmen, so sie denn überhaupt ankommen, die Eigeninitiative der Empfänger.“

Gegen Ende nennt Grill die Schwierigkeiten, sich von Klischees zu befreien. Im „Kopfgepäck“ führe man „scheinbar allgemeingültige Werte mit, die unser abendländisches Denken codiert hat“. Das verstelle jedoch den Blick auf die Lebenswirklichkeit der Afrikaner, etwa auch auf die trotz aller Krisen lebensfrohe, heitere, humorvolle Seite. Melancholie klingt an, ein, wie der Autor über sich sagt, „nagendes Ungenügen“. „Ich verspürte es, wenn ich in verstaubten Universitätsbüros altehrwürdigen Professoren mit zerknitterten Krawatten gegenübersaß und sie von der Vielfalt ihres Erdteils erzählen hörte. Dann fragte ich mich oft: Was wissen wir schon über Afrika?“

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Grill, Bartholomäus

Afrika!Rückblicke in die Zukunft eines Kontinents

(Siedler Verlag, München 2021, 285 S., mit Abbildungen, 22 €)

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