Wohin die Ökumene geht? Gleich zu Beginn kommt Kardinal Kurt Koch, der Präsident des Päpstlichen Rates für die Einheit der Christen, auf den Verdacht zu sprechen, die Ökumene gehe gar nicht, sondern sie stehe. Bischöfe berichteten in Rom, „das Interesse an der Ökumene sei, zumal bei der jungen Generation und auch bei jüngeren Priestern, schwächer geworden“.
In der Tat: Die ökumenische Begeisterung und Hoffnung, die während des Zweiten Vatikanischen Konzils und danach gerade die Atmosphäre in der katholischen Kirche weithin prägten, sind verflogen. Zwischenkirchliche Kontakte sind inzwischen vielerorts mehr oder minder zur Routine geworden. Eine kaum noch überschaubare Zahl theologischer Gespräche hat stattgefunden oder läuft noch, ein Berg von Dokumenten wurde hervorgebracht. Und doch: Mehr und mehr Menschen haben das Gefühl, die ökumenische Bewegung trete auf der Stelle. Es geht nichts mehr voran.
Wer versucht sein mag, diese Situation gering zu achten, sollte sich zumal hierzulande an jene Zeiten erinnern, in denen die christlichen Konfessionen nicht nur kontrovers-theologisch miteinander im Streit lagen, sondern einander mit Waffengewalt bekämpften, Christen einander verfolgten und hinrichteten. Vor diesem Hintergrund kann man es nur begrüßen, wenn Kardinal Koch in Ausübung seines Amtes sein Buch geschrieben hat „als Hinführung zur Wahrnehmung der Verpflichtung aller Glieder der Kirche und besonders derjenigen, die zu einem Dienst in der Kirche berufen sind“. Gedacht ist es deshalb vorrangig als Beitrag zur „ökumenischen Bildung“, deren Bedeutung der Päpstliche Rat in der jüngeren Vergangenheit mehrfach betont hat.
Um diese Bildung ist es in der römisch-katholischen Kirche nicht sonderlich gut bestellt, obgleich es an kirchenamtlichen Richtlinien dazu keinen Mangel hat. Sehr wahrscheinlich hat keine andere Kirche ihre ökumenische Verpflichtung derart umfänglich, konkret und verbindlich dargelegt wie die römisch-katholische. Dennoch würde eine umfassende und ehrliche Überprüfung der Studienordnungen und Lehrpläne an Hochschulen, Fakultäten und Priesterseminaren im Licht der Frage, welchen Stellenwert sie dem ökumenischen Anliegen einräumen, ein ernüchterndes, um nicht zu sagen niederschmetterndes Ergebnis erbringen. Die Bischöfe, denen der Kardinal die Hauptverantwortung für das fehlende Engagement zuschreibt, scheint das kaum zu stören. Aber sie beobachten sehr wohl recht genau, ob und wo es im kirchlichen Leben zu „ökumenischem Wildwuchs“ kommt, wo amtlich gesetzte Grenzen der Ökumene überschritten werden.
Der Kardinal sucht nach Gründen für die verfahrene Situation und findet einen maßgeblichen im Fehlen einer gemeinsamen Zielvorstellung der ökumenischen Bewegung. Damit hat er sicherlich recht. Aber dieses Defizit erklärt wohl nicht das ökumenische Desinteresse jüngerer Priester und junger Menschen.
Es würde sich lohnen, den Gründen für das Nachlassen oder Verschwinden des Einsatzes für die Ökumene genauer nachzuforschen. Doch das liegt nicht in der Absicht des Kardinals. Das Buch kann jedem dringlich empfohlen werden, der sich darüber informieren will, wie die römisch-katholische Kirche aus lehramtlicher Perspektive die aktuelle ökumenische Problematik sieht und welche Lösungen sie sich vorstellt. Der Band ist klar und im Rahmen des Möglichen einfach, das heißt ohne zu viel Fachterminologie geschrieben.
Der Verfasser bietet einen Aufriss und vertiefende Erläuterung des entscheidenden Dokuments, mit dem diese Kirche sich entschieden und unwiderruflich der ökumenischen Bewegung angeschlossen hat, also des Dekrets über die katholischen Prinzipien des Ökumenismus Unitatis redintegratio. Beschlossen wurde es vom Zweiten Vatikanischen Konzil vor inzwischen über einem halben Jahrhundert, auch das gewiss ein Grund für die veränderte Stimmungslage. Für die jüngeren Generationen liegt der ökumenische Aufbruch lang zurück und hat keinen Zusammenhang mit ihrer Lebenserfahrung mehr. Kardinal Koch widerlegt überzeugend all jene Kommentare, die den Grad der Verbindlichkeit dieses Konzilstextes herunterzuspielen suchen. Er ergänzt und unterstreicht diesen Nachweis, indem er das „ökumenische Lehramt der Päpste nach dem Konzil“ mit seinen jeweils charakteristischen Akzenten darlegt. Es folgt ein Durchgang durch die traditionellen theologischen Streitfragen sowie ihre Erörterung im Licht verschiedener ökumenischer Dialoge.
Als Hauptkronzeugen für die eigene Beurteilung zieht der Kardinal einerseits vor allem Joseph Ratzinger, andererseits den lutherischen Theologen Wolfhart Pannenberg heran. Seine Bilanz fällt naturgemäß differenziert aus, denn die sehr komplexe Gesamtsituation erlaubt keine simplen und pauschalen Urteile. Im Grundton jedoch zeichnet sich das Buch durch eine verhaltene Zuversicht aus, die zwar keine schnellen Lösungen verheißt, aber auch keine Resignation verrät und schon gar keine Zweifel am ökumenischen Auftrag der Christenheit zulässt.
Ob es dem Kardinal gelingen kann, mit seinem Werk die weitgehend erloschene Leidenschaft für die Ökumene neu zu entflammen, daran allerdings wird man zweifeln dürfen. Dabei spielt es kaum eine Rolle, dass eine derart kompakte Zusammenfassung und Bestandsaufnahme der ökumenischen Lage unvermeidbar Fragen offenlassen muss.
Viel stärker dürfte ins Gewicht fallen, wie weit ihr Inhalt von der Lebenswirklichkeit vieler Christen und Gemeinden – jedenfalls in Europa – entfernt ist, vermutlich nicht nur da. „Normale“ Gläubige interessieren sich nun einmal nicht für die ekklesiologischen Feinheiten der Rechtfertigungslehre. Sie interessieren sich in erster Linie dafür, was das alles lebenspraktisch für sie bedeutet. Es geht in der Regel weniger um einen allgemeinen Relativismus oder einen falsch verstandenen Pluralismus, wenn das Kirchenvolk sich nur begrenzt für die ökumenische Sache engagiert, sondern um einen anderen Blickwinkel, als ihn für gewöhnlich Theologen und zumal Dogmatiker einnehmen (müssen?).
So gesehen sticht sofort auch die binnenkirchliche und binnentheologische Beschränkung ins Auge, die das gesamte Buch prägt. Es blendet nahezu völlig die enge Verzahnung der ökumenischen Bewegung mit den jeweils bedrängenden Problemen der Zeit aus, die zu einem ihrer Hauptmerkmale gehört und in der jüngeren Vergangenheit im konziliaren Prozess für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung einen lebendigen Ausdruck gefunden hat. In einer historischen Phase, in der eine ständig wachsende Zahl gerade auch von jüngeren Menschen um die Überlebensfähigkeit des Planeten bangt, dürfte ein Ökumene-Verständnis, das von diesem Kontext keine Kenntnis nimmt und sich von ihm nicht herausgefordert weiß, auf eine gewisse skeptische Zurückhaltung stoßen.
Der Kardinal hat bewusst einen anderen Zugang gewählt, für ihn gebührt der Verständigung in Fragen des Glaubens und der kirchlichen Verfassung der Vorrang – und zwar nicht zuletzt mit Rücksicht auf die praktische Zusammenarbeit. Diese Entscheidung überzeugt nur bedingt, vor allem entbindet sie nicht von der Aufgabe, über den theologischen Stellenwert von Zusammenarbeit und gemeinsamem Zeugnis nachzudenken. Die „Ökumene der Märtyrer“, von der Papst Johannes Paul II. so eindringlich gesprochen hat, ist ein wahrhaft großes und noch unausgeschöpftes Thema. Aber das feste und treue Miteinander in Zeugnis und Dienst im alltäglichen Leben ist es nicht minder.