Es gehört zur List der ökumenischen Bewegung, dass ein Protestant eine treffsichere Gesamtübersicht dessen schreibt, was evangelischerseits noch bis vor kurzem als durch und durch katholisch, ja vielleicht sogar als „heidnisch“ betrachtet wurde. Und ausgerechnet über Luther ist nun hier zu lesen, es sei ihm nicht „an einer individualistischen mystischen Erfahrung“ gelegen, „sondern die mystische Erfahrung war für ihn in die Gemeinde und in die Kirche eingebunden“ – also eine genuin katholische Perspektive.
Es ist ein ebenso mutiges wie dringliches Unterfangen, 2000 Jahre Geschichte des Christentums und seiner Mystik(en) zu einem gut lesbaren Sachbuch zu verdichten, das nicht nur ein ökumenisches Ereignis ist, sondern das Zeug zum erstorientierenden Standardwerk hat. Es geht, so schreibt es Volker Leppin, „um Texte (!), die um die Vorstellung einer exzeptionellen Nähe zu Gott kreisen, die durch ihre Unmittelbarkeit die üblichen Frömmigkeitsformen überschreitet und im Individuum realisiert wird“. Näher kann jedenfalls der Historiker dem intimen Lebensgeheimnis derer nicht kommen, die man Mystikerinnen und Mystiker nennt: zu unmittelbar und je einmalig ist es in ihrer Biografie und Zeit.
Mystischer Schriftsinn
Oft wird derzeit von „der“ Mystik so gesprochen, als handle es sich um ein zeitenthobenes, geschichtsloses Phänomen quer durch die Religionen und Kulturen hindurch. Solch eine „essentialistische“ Sicht ist durchaus sinnvoll, um einen allgemeinen Vorbegriff des gemeinten Sachverhalts zu markieren. Aber sie ist auch sehr problematisch, denn „die“ Mystik gibt es so wenig wie ein Esperanto für die vielen konkreten Sprachen. Immer ist die gemeinte religiöse Unmittelbarkeit nämlich imprägniert und konstruiert durch kulturelle, historische und biografische Lebenswelten. Nicht „die“ Mystik ist die Frage, sondern welche! Und dazu ist solch historische Tiefenschärfung notwendig, eben durch fachkundige und lehrreiche Durchblicke wie diese.
Das abstrakte Substantiv „Mystik“ ist bezeichnenderweise erst im 17. Jahrhundert in Umlauf gelangt. Die gemeinte Wirklichkeit aber kommt einem christlich natürlich schon in der Bibel entgegen – und deren kanonische Festlegung ist bekanntlich eine immense kirchliche Konsensleistung. Christlich elementar ist nämlich stets die Suche nach dem mystischen Sinn der „heiligen“ Schriften – und das auf der Spur und im Gespräch mit jüdischer und griechisch-römischer Hermeneutik.
„Unwahrscheinlicher als Jesus Christus ist nichts“ (Botho Strauß) – und entsprechend vielfarbig ist der Prozess der Christ- und Kirchewerdung in einer polytheistischen Lebenswelt mit ihren eigenen Mysterien und Mystiken gerade in den Anfängen. Leppin zeichnet das geradezu aufregend nach, indem er zum Beispiel auf die Faszination jener Lebensschulen und Denkweisen eingeht, die man „gnostisch“ nennt. Von früh an gehören eben Mystiker und Ketzer geschwisterlich getrennt im Bemühen zusammen, radikal aus dem Geist Jesu zu leben. Es treibt sie jene christliche Mitte um, von der Papst Leo der Große sagte: „Der Unbegreifliche wollte (!) sich begreiflich machen“ – in Jesus Christus nämlich und in denen, die sich von seinem Geist finden lassen.
Reichtum des Mittelalters
Begreifen aber bedeutet angesichts des Geheimnisses dessen, den wir Gott nennen: sich ergreifen zu lassen. Deshalb lässt sich glaubensgeschichtlich von dem, was später Mystik heißt, präzise erst sprechen im endgültigen Zusammenschluss von biblischem und (neu-)platonischem Denken – besonders seit Augustinus und dann seit jenem unbekannten syrischen Theologen, der den Kunstnamen Pseudo-Dionysius Areopagita trägt. Die wenigen Seiten zu diesem höchst wirkungsstarken Theologen christlicher Gottesbegegnung gehören zu den Kabinettstücken in Leppins Werk: dicht und präzise wird hier erschlossen, was zusammen mit den Mönchsväter-Geschichten fortan prägend sein wird.
Natürlich kommen in Leppins Ahnengalerie zusammen mit spirituellen Aufbruchsbewegungen immer auch wichtige Einzelgestalten zu Wort: nach Augustinus besonders Bernhard von Clairvaux und sein Kreis, dann die vielfarbige Frauenmystik (auch mit Hildegard von Bingen) und die zahlreichen Aufbruchsbewegungen etwa in den Bettelorden. Mit dem Entstehen der Universitäten stellt sich neu die alte Frage nach Glaube und Verstehen, nach Eros und Vernunft, nach intellektueller und spiritueller Redlichkeit, nach monastischer und scholastischer Spiritualität. Einheits-und Liebesmystik ergänzen sich vielfarbig.
Das 12. Jahrhundert hat man mit Recht eine Achsenzeit christlichen Aufbruchs genannt. Franziskanische, dominikanische, kartausische Mystikstile in Denken und Leben bilden sich aus. Nicht zufällig ist Meister Eckhart von damals heute eine besondere Dialog- und Projektionsfigur. Leppin, der jüngst das derzeit beste Buch zu Franz von Assisi veröffentlicht hat, erweist sich als sehr gut informierter Interpret jenes geistlich vielstimmigen Hochmittelalters, das das genaue Gegenteil von „finster“ oder „dunkel“ war – nämlich eine unglaublich schöpferische Brunnenstube der Moderne im Spannungsfeld von Kontemplation und Aktion, Vernunft und Glaube, von Lehre und Leben.
Unterwegs in die Moderne
Es liegt nahe, dass Vor- und Nachgeschichte der Reformationen im 16. Jahrhundert einen weiteren Schwerpunkt von Leppins Darstellung bilden. Schon im letzten Jubiläumsjahr der Reformation hatte der Tübinger Theologe „Luthers mystische Wurzeln“ gerade bei Eckhart aufgedeckt. Hier besonders ist der evangelische Kirchengeschichtler ganz in seinem Element. Entsprechend kommt die Glaubensgeschichte rund um Luthers Wirken differenziert und informativ zu Wort: die so genannte devotio moderna davor ebenso wie die pietistische und orthodoxe Vielfalt danach. Wie selbstverständlich werden Luther, Ignatius und Teresa von Ávila in ihrer jeweiligen Besonderheit, aber doch in einem Atemzug dargestellt. (Auch Philipp Neri hätte einen Hinweis verdient!) Überhaupt erfreut und überrascht die ökumenische Souveränität, mit der Leppin zudem auch ostkirchliche Entwicklungen im Auge behält, freilich notgedrungen knapp. Der so genannte Hesychasmus etwa nimmt schon im Namen jenes biblische Hoffnungswort auf, das Leppins Werk den Titel gibt: sabbatliches „Ruhen in Gott“.
Die kraftvolle Verdichtung geschichtlicher Prozesse und ihre ansprechende Darstellung prägen auch die letzten Abschnitte des Buches, die mit zunehmendem Tempo und markanter Straffung auf den Beginn des 20. Jahrhunderts zulaufen, aus Platzgründen bisweilen stichwortartig: das Interesse an Mystik seit Schopenhauer und Nietzsche, in Kunst und Literatur etwa bei Rilke, und dann Eckharts deutschtümelnder Missbrauch durch die Nazis, schließlich im kurzen Ausblick „die Neubelebung der Mystik nach dem Zweiten Weltkrieg“. Gerade im Blick auf das 19. Jahrhundert hätte man wohl ausführlicher von mystischen Aufbrüchen im Umfeld des Sozialen und Diakonischen berichten können. Aber solche Defizite sind der Auszeichnung großer Linien geschuldet, und dazu gehört auch, dass Leppin ein eigenes Kapitel zur katholischen Mystik Frankreichs nicht vergisst und sogar ein Seitenfensterchen Richtung nordamerikanischer Verfassung öffnet.
Ökumenische Weitung
Kurzum: ein sprachlich wie inhaltlich glänzendes Werk. Auch gut vorinformierte Leser finden noch neue Anregung, und im Ganzen entsteht das Panorama einer aufregenden Inkarnationsgeschichte, die einer Schatzkammer gleicht. Im Einzelnen und Ganzen werden alle, die noch gründlicher einsteigen wollen, McGinns vielbändige „Geschichte der abendländischen Mystik“ dazunehmen. Dabei wird noch deutlicher, worin sich der evangelische Glaubensgeschichtler vom katholischen unterscheidet. Auf die Verhältnisbestimmung von „Mystik“ und „Kirche“ etwa, von „Mystik“ und Liturgie“ (Sakrament!), auch von „Charisma und Amt“ fällt dann unterschiedliches Licht. Solch ökumenische Weitung steht jedenfalls entschieden im Dienst einer Welt, die nach Einheit und Frieden schreit. Zusammen mit Thomas Merton und Lasalle zitiert Leppin zum Schluss treffend Dag Hammarskjöld: „Der Weg zur Heil(ig)ung geht in unserer Zeit notwendig über das Handeln.“