Denkt man über die Rolle der Tiere in der Kirchengeschichte nach, wandern die Gedanken gleich zu Franziskus von Assisi, dem großen Liebhaber der Schöpfung – eine der vielen Rollen, die ihm vor allem das 19. Jahrhundert auf den Leib schrieb. Die Naturverbundenheit des Heiligen liebte auch das 20. Jahrhundert, und Papst Johannes Paul II. ernannte ihn 1979 zum Schutzpatron der Ökologen und der Ökobewegung.
Für die Vereinnahmung des Ordensgründers als „Protoökologe“ sprechen durchaus literarische und visuelle Zeugnisse: Der sogenannte Franziskusmeister malte um 1260 den Ordensgründer bei seiner berühmten „Vogelpredigt“. Auf dem Fresko in der Unterkirche von San Francesco in Assisi trägt der Prediger in der linken Hand eine Bibel und segnet mit seiner Rechten eine bunte, auf ihn blickende Vogelschar. Die bekanntere visuelle Umsetzung seiner legendarischen Ansprache befindet sich in der Oberkirche und ist Teil des Freskenzyklus „La Leggenda Francescana“ von Giotto di Bondone. Der wunderbare „Sonnengesang“ des Mystikers aus wohlhabendem Haus tat das Seine, um den Dichter mancherorts als Vorreiter der ökologischen Bewegung zu stilisieren.
Franziskus’ Tier- und Naturliebe entsprang jedoch keinem Kuschelimpuls oder einem Schutzbedürfnis, sondern der Erkenntnis: Alles hat seinen Ursprung in Gott. Daher spiegeln seine Geschöpfe göttliche Eigenschaften. So konnte der Visionär auch die Bewohner der Lüfte „Meine Brüder Vögel!“ anreden. Und selbstverständlich sollten sie wie die Menschen dem Schöpfergott danken, weil er sie so gut ausgestattet habe. Trotzdem hörten ihn Mitbrüder oft sagen: Der Kaiser solle eine Verordnung erlassen, die das Fangen und Töten von Lerchen verbiete. Und am Weihnachtstag sollten alle Vögel besonders gefüttert werden, wünschte er.
Franziskus war überzeugt, dass Tiere als Teil der Schöpfung auch ein Verständnis von ihr haben und sogar die Botschaft ihrer Erlösung verstehen können. Vermutlich hätte der Kirchenerneuerer aus dem frühen 13. Jahrhundert einer Einsicht der Primatologin Jane Goodall aus dem 20./21. Jahrhundert zugestimmt: Die Grenzen zwischen Mensch und Tier sind fließend. Allerdings glaubte der Heilige an eine hierarchisierte Natur, bei der die verschiedenen Stufen den spirituellen Aufstieg zu Gott symbolisieren. Der moderne Naturbegriff, der die Natur als autonome kreative Seinsform und als einen Prozess deutet, wäre zu Franziskus’ Lebzeiten der Häresie verdächtig gewesen.
Nicht nur der „Poverello“ pflegte eine respektvolle Beziehung zu Tieren. Etliche Hagiographen nutzten den vertraulichen Umgang ihrer geistlichen Helden und Heldinnen mit der Tierwelt, um die Gottbezogenheit und Heiligkeit ihrer Protagonisten herauszustellen. In aufregenden Geschichten besänftigte die Friedfertigkeit heiliger Menschen selbst Raubtiere. Ein beliebtes Beispiel ist der Kirchenvater Hieronymus, der einen verletzten Löwen heilte und ihn als treuen Gefährten akzeptierte.
Literarischer Referenzrahmen für heilige Tiergeschichten ist die biblische Vision des Tierfriedens, den der Prophet Jesaja verheißt: „Der Wolf findet Schutz beim Lamm, der Panther liegt beim Böcklein. Kalb und Löwe weiden zusammen, ein kleiner Junge leitet sie. Kuh und Bärin nähren sich zusammen, ihre Jungen liegen beieinander. Der Löwe frisst Stroh wie das Rind. Der Säugling spielt vor dem Schlupfloch der Natter, und zur Höhle der Schlange streckt das Kind seine Hand aus“ (11,6–8).
Auch außerchristlich kannte die Antike das Ideal des Tierfriedens. Im 1. Jahrhundert v. Chr. schilderte der römische Dichter Horaz einen Tierfrieden als Gegenbild zum damaligen Bürgerkrieg: „Die Ziegen kommen von selbst zum Melkeimer mit prallen Eutern. Nachts schleicht kein Bär um den Schlafstall. Keine Natter schnellt empor. Und das Vieh quält keine Seuche, und keine Hitzewelle beeinträchtigt seine Zeugungskraft“. Auch sein Zeitgenosse Vergil träumte: „Die Herden brauchen die Löwin nicht mehr zu fürchten, und die Schlange geht zugrunde.“ Die Antike war Tieren vielschichtiger verbunden als die Moderne: Sie waren Arbeits- und Nutztiere, Jagdbeute oder Haus- und Opfertiere. Es gab Tiergötter wie den heiligen Stier Apis in Ägypten und grenzüberschreitende Mischwesen wie die Sphinx. Tiere symbolisierten Gutes wie Böses.
Im Neuen Testament wird der Teufel mit einem wilden Tier verglichen, so im Ersten Petrusbrief: „Euer Widersacher, der Teufel, geht umher wie ein brüllender Löwe und sucht, wen er verschlingen könne“ (5,8). Als Jesus einem Besessenen in Gerasa die Dämonen austrieb, baten sie ihn, er möge sie in dort weidende Schweine fahren lassen. Er entsprach ihrem Wunsch, und die Herde stürzte sich ins Wasser und ertrank (Mk 5,1–20).
Für Sulpicius Severus (363–435), den Verfasser der ersten Hagiographie in lateinischer Sprache, war Jesus die spirituelle und moralische Leitfigur, an der sich „sein“ Heiliger zu messen hatte. Dieser Heilige war Martin von Tours. Sulpicius, der den betagten Martin wohl zwei Mal in dessen Klostergründung Marmoutier besucht hatte, hielt den Bischof für einen alter Christus, einen zweiten Christus, und der schriftstellernde Anwalt aus einem Adelsgeschlecht im heutigen Westfrankreich tat alles, um in seiner Vita Martini den entsprechenden Beweis zu führen. Immerhin wurde Martin der erste Heilige der Kirchengeschichte, der nicht den Märtyrertod erlitten hatte. Seine strenge asketische Lebensführung, die sein erster Biograph immer wieder herausstellte, bot gleichwertigen Ersatz.
Auf den ersten Blick verbinden wir Martin von Tours nicht wie Franziskus mit einem mystischen Verhältnis zu Tieren. Vor unserem geistigen Auge steht die Mantelteilung am Stadttor von Amiens, eine singuläre Geschichte, die der Zeitzeuge Sulpicius überliefert hat. Obwohl deren Historizität immer wieder bezweifelt worden ist, konnte die Skepsis der Theologen und Historiker die Wirkungsgeschichte der guten Tat nicht bremsen. Wenn in diesem Jahr wieder Tausende Kinder um den 11. November, den Begräbnistag des heiligen Martin, singend durch die Straßen ziehen, schreiben sie seine Geschichte der Barmherzigkeit fort. Mit von der Partie ist meist ein Pferd, auf dem ein als Soldat verkleideter moderner Martin sitzt und die Laternenprozession begleitet. Dass auch der historische Martin, der in der berittenen kaiserlichen Garde diente, auf einem Pferd saß, als er seinen Dienstmantel für den frierenden Bettler halbierte, liegt nicht nur in unserer Vorstellung nah. Seit dem 10. Jahrhundert haben etliche Künstler den Elitesoldaten hoch zu Ross dargestellt. Allein: Sulpicius Severus erwähnt kein Pferd vor den Toren Amiens. Innerhalb der Stadtmauern hätte Martin, wie es in römischen Städten üblich war, von seinem Reittier absteigen müssen. Ob zu Fuß oder zu Pferd – den Offizier Martin verband, bis er um 359 spektakulär den Dienst quittierte, ein Arbeitsverhältnis mit seinem Reittier. Für Sulpicius war das Tier nicht der Rede wert.
Bei der nächsten überlieferten Begegnung mit Tieren offenbarte sich Martins gewandeltes Leben. Zehn Jahre lebte er bereits als Mönch in seiner Klostergründung Ligugé unweit von Poitiers und zehrte von seinem Ruf als mächtiger Wunderheiler, als die Bewohner von Tours einen Nachfolger für ihren 371 verstorbenen Bischof suchten. Da ihr Wunschkandidat Martin zögerte, lockten ihn die Bewohner mit einer List in ihre Stadt. Auf dem Weg erkannte er, dass es weniger um eine Krankenheilung ging, sondern um seine Berufung zum Bischof. Einer Legende zufolge versteckte sich der demütige Mönch in einem Gänsestall, aber das Geschnatter der Tiere verriet den Schutzsuchenden. Im Angesicht der Gänse versagte Martins Wunderkraft. Denn in diesem Fall waren sie die Vollstrecker des göttlichen Willens, der Martin auf dem Bischofsstuhl sehen wollte. Vielleicht haben aber auch die legendären kapitolinischen Gänse, die Begleiter der Göttin Juno, deren warnendes Geschnatter 387 v. Chr. das römische Kapitol vor der Eroberung durch die Gallier bewahrte, den literarischen Grund für die klugen Touroner Gänse gelegt.
Während seines 26 Jahre langen Episkopats bewährten sich Sulpicius zufolge Martins Heiligkeit und Wundermacht, indem sie natürliche Gesetzmäßigkeiten außer Kraft setzten. Allerdings war der Bischof überzeugt, die episkopale Würde habe seine Wunderkraft geschwächt. Der Glaube an die ihm zugesprochenen übernatürlichen Fähigkeiten half ihm jedoch, um das Umland von Tours zu missionieren. Denn der christliche Gott erwies sich in der Auseinandersetzung mit dem gallischen Geisterglauben und dem Druidentum als stärker.
In seiner Einleitung zu den Tierwundern rühmte Sulpicius, Martin habe den Teufel in jeder Gestalt durchschaut, ob er sich in seiner wahren Natur zeigte oder als böser Geist erschien. Als Martin einmal aus der Kaiserstadt Trier zurückkehrte, griff ihn eine Kuh an. Er erkannte einen Dämon auf dem Rücken des Tiers. Martins Begleiter schrien, er solle sich in Sicherheit bringen, denn die Kuh habe mit ihren Hörnern schon viele Opfer durchbohrt. Doch der Heilige hob die Hand, gebot der rasenden Kuh stehen zu bleiben und herrschte den Dämon an zu verschwinden. Dieser gehorchte, und das erlöste Tier kniete vor seinem Befreier nieder und reihte sich auf dessen Befehl wieder in die Kuhherde ein. Das Gleichgewicht in der Natur war wiederhergestellt. Im Gegensatz zum Mönchsvater Antonius, in dessen griechischer Vita der Teufel eine Menagerie aufbot, um den Gottesmann zu Fall zu bringen, folgte Sulpicius Severus dem Prinzip, das bereits für den medicus Martin galt: Wie seine Heilkraft stets einer bestimmten kranken Person zugutekam, so zähmte er in Konflikten immer ein einzelnes Tier oder eine Tierart.
Schüler Martins berichteten einen Vorfall an der Loire. Mit ihrem Lehrer standen sie am Ufer, als sich ihnen eine Wasserschlange näherte. Seit der Genesis galten Schlangen als Wohnstätte des Teufels, und die Gruppe geriet in Aufregung. „Im Namen Gottes befehle ich dir umzukehren“, schleuderte Martin der „bösen Bestie“ entgegen, und die Schlange tauchte ab. Sein Kommentar beschäftigte sich weniger mit seinem Erfolg, sondern bestätigte, dass der Missionsbischof zu Lebzeiten nicht nur Anhänger hatte: „Schlangen hören auf mich, und Menschen hören nicht auf mich.“
Franziskus von Assisi hätte wahrscheinlich selbst in der angriffslustigen Schlange die göttliche Handschrift erkannt. So weit ging der heilige Martin nicht. Zu allgegenwärtig waren die Gefahren, die in der Natur lauerten. Doch auch er hatte ein Herz für die tierischen Mitgeschöpfe. Auf einer Visitationsreise erlebte er, wie eine Hundemeute einen Hasen über das offene Feld jagte. Für das gehetzte Tier gab es keinen Fluchtweg mehr. Martin konnte den Anblick nicht ertragen und befahl den Hunden, ihre Verfolgung zu beenden. Wie angewurzelt blieben sie stehen. Martins Bindekraft hatte gewirkt, und er demonstrierte, dass sich die Tugend der Barmherzigkeit nicht nur auf den Menschen erstreckt, sondern auf die gesamte Schöpfung einschließlich der Tiere.
Ab und an profitierte der Bischof von Tours auch persönlich von seinem besonderen Charisma. Die antiken Leser der Vita Martini werden sich insgeheim gefreut haben, hatte er doch Soldaten in die Schranken gewiesen, die wegen ihrer Übergriffe gefürchtet waren. Auf einer seiner vielen Visitationsreisen lief Martin die Staatsstraße entlang. Er hing seinen Gedanken nach und bemerkte nicht, wie sich ein Wagen mit Soldaten näherte. Auf Staatsstraßen hatten Reiter und Wagen der Staatsmacht Vorfahrt. Fußgänger waren gut beraten, demütig am Straßenrand zu warten. Als die Maultiere, die den Wagen zogen, auf gleicher Höhe mit dem in einen dunklen rauen Mantel gehüllten Martin waren, scheuten sie, und der Wagen blieb stehen. Erzürnt über die Verzögerung prügelten die Soldaten auf den „Übeltäter“ ein, der die Hiebe der ehemaligen Kameraden stoisch ertrug. Inzwischen hatten seine Begleiter, die ihm vorausgeeilt waren, den Vorfall bemerkt, kehrten um, legten ihren blutenden Bischof auf einen mitgeführten Esel und machten sich aus dem Staub. Als die Prügler ihren Weg fortsetzen wollten, streikten die Maultiere. Selbst Schläge konnten ihre Sturheit nicht brechen. Passanten klärten die Soldaten schließlich darüber auf, dass sie Martin von Tours zusammengeschlagen hatten. Reumütig suchten sie ihr Opfer auf und flehten um Verzeihung. Martin vergab ihnen, und die Maultiere trabten los. Die augenfällige Macht über Tiere, die sich mit Martin solidarisierten, wies den Wundertäter als göttlich inspirierten Menschen aus. In der Maultiergeschichte dienten die Lasttiere auch als Anstoß zu Reue und Umkehr.
In einem Brief an seine Schwiegermutter Bassula berichtete Sulpicius, dass Martin Tiere außerdem einsetzte, um seine Mönche und Schüler zu belehren. Er war auf dem Weg zu seiner Gründung in Candes-Saint-Martin, um dort einen Streit unter Klerikern zu schlichten. Seine Begleiter wussten, dass Martin seinen baldigen Tod ahnte. Als er Wasservögel, vermutlich Möwen, entdeckte, die den Fischen nachjagten, um sich gierig mit dem Fang den Schlund vollzustopfen, setzte der über 80-Jährige zu einer Lehrerzählung an: Sie stellen den Unvorsichtigen nach, schnappen die Ahnungslosen, schlingen die Gefangenen hinab, vermögen sich an dem, was sie verschlungen haben, nicht zu sättigen, so Martins Predigt. Dann befahl er den nimmersatten Vögeln, das Wasser zu verlassen und trockene, einsame Gegenden aufzusuchen. Die Tiere gehorchten. Noch einmal hatte der Bischof seinen Begleitern eine Kostprobe seiner Macht gegeben.
Sulpicius deutete den Vorfall pädagogisch und erkannte in ihm Martins Vermächtnis: Der Teufel steckte zwar nicht in den Vögeln, doch dienten die Tiere Martin als anschauliches Mittel, um dessen Vorgehen gegen anfällige Menschen zu entlarven. Wer Martins Lehre verinnerlichte, war in Zukunft gegen die List des Bösen gewappnet.
Unabhängig von der Diskussion über ihre Historizität erhellt die Geschichte, wie der Klostergründer seine Gemeinschaft führte: Statt langer theologischer Vorträge liebte er eingängige Beispiele, versehen mit kurzen Erläuterungen, und erwies sich als Freund einer lebensnahen Pädagogik. Kein Wunder, dass er selbst nichts Schriftliches hinterlassen hat, nicht einmal eine Mönchsregel. Denn er selbst war die lebendige Regel. Die Begegnung Martins mit den Möwen präsentiert den Mönchsbischof als begabten Lehrmeister, der nach seinem Tod den verwaisten Schülern eine eingängige Geschichte hinterließ, die sie immer wieder abrufen konnten. Und vielleicht half besonders das Einbeziehen von Tieren, die menschliche Erinnerung zu stärken.
Martins besonderes Verhältnis zu Tieren hatte durchaus eine pragmatische Seite. Zu Ostern gönnte selbst er sich einen Fisch. Die Betonung liegt auf „einen“. Denn selbst in Festlaune hielt der Asket Maß und wandelte auf Jesu Spuren: Der Küchenchef des Klosters war freilich untröstlich. Kein Fisch war ins Netz gegangen, den er hätte zubereiten können. Martin blieb optimistisch und befahl dem Koch: „Geh, wirf dein Netz aus, der Fang wird gelingen!“ Und wie er gelang! Mit seinem kleinen Netz fing der Mann einen riesigen Salm. Wer hätte bei diesem Erfolg nicht an den wunderbaren Fischfang im Lukasevangelium gedacht?
Ob Martin, Franziskus oder andere Heilige: Ihre Beziehung zu den Tieren sollte nicht nur als beliebter Topos der Literaten abgetan werden. Hinter ihr steht eine unbändige Gottesliebe, die sich in der Liebe zur Schöpfung ausdrückt. Wer Gott liebt, liebt auch seine Geschöpfe. Nicht zuletzt die Tiere, die vielleicht mehr verstehen, als wir zu denken wagen.