Die gegenwärtige katholische und mehr noch die evangelische Kirchenmusik haben für Bayreuther ihre Kernaufgabe aus den Augen verloren. Statt nämlich der Ermöglichung von Gottesbegegnungen nachzugehen, versuche die Kirche, ein gefühliger und gefälliger Wohlfühlort für alle zu werden. „Die Kirchenmusik ist zu einem Ohrensessel geworden, in dem man sehr weich und tief sitzt.“ Unerwartetes und Überwältigendes werde weder gewünscht noch erwartet. Stattdessen werde die Musik normiert und funktionalisiert. Als ein Beispiel nennt der Autor das von der EKD initiierte Balkon-Liedersingen zu Beginn der Corona-Pandemie: Die Aufgabe, die Einsamen und Isolierten im Lockdown zu trösten, hätte „besser ein Sozialverband übernommen“.
Die Musik machen lassen
Bayreuther unternimmt im zweiten Abschnitt dann einen großen Zeitsprung. Er stellt verschiedene kultische Verehrungsformen von den antiken Griechen über die Juden und Jesus bis zu Paulus dar. Hier sieht der Autor nämlich die Wurzel des aktuellen Problems: Durch die paulinische Theologie sei die unmittelbare Gottesbegegnung überflüssig geworden, da Gott sich laut ihr weder orts- noch zeitgebunden offenbart. Das Transzendente wurde infolgedessen scheinbar verfügbar und so banalisiert. Hinter die „Unklarheit des vermenschlichten Gottes und der vergotteten Humanität“ müssen wir laut Bayreuther zurück, um den wahren „Sound Gottes“ zu ermöglichen.
Diesem Sound, Bayreuthers Vorstellung wahrer Kirchenmusik, widmet er sich im dritten und kürzesten Kapitel. Zielgruppen, Musikgenre oder Medien – diese Parameter spielen für ihn keine Rolle bei der Suche nach transzendenten Erfahrungen. Entscheidend sei die Haltung der Hingabe: Man müsse der Musik gedanklich und körperlich nachspüren, sie aus den gottesdienstlichen Slots befreien, das Göttliche empfangen, experimentieren, improvisieren, die Musik machen lassen, Gott mit der Musik machen lassen. Eine Bestimmung von Gründen und Absichten der Musik sei fehl am Platz. Die Musik, allgemein die Kunst, solle als ein „aller theologischen Dialektik freier Akt Gott eine Stätte seines tatsächlichen Erscheinens bereiten“. Allein eine nüchterne Dokumentation von göttlichen Soundereignissen regt Bayreuther an „für künftige theologische Big Data“. Hieraus würden sich womöglich Muster ergeben, die den Glauben an den erlebten Gott stärken.
Bayreuthers Buch ist so klar wie provokant, seine Argumentation so nachvollziehbar wie anregend. Die Forderung, die am Ende steht, scheint mir jedoch schlicht nicht umsetzbar: Die aktuelle diverse Kirchenlandschaft wird nicht mit vereinten Kräften das Rad der Musikgeschichte, des Gemeindelebens und der Tradition des Gottesdienstes zurückdrehen. Ich stimme zu, die Kirche muss darauf achten, ihre Botschaft nicht über dem Wunsch, zu gefallen, zu verwässern. In Zeiten, in denen die Attraktivität der Kirche aber nicht für sich selbst steht, geht das Wohlfühlen der Besucherinnen und Besucher womöglich der Gottesbegegnung voraus. Apropos Wohlgefühl, auch Diakonie ist eine Kernaufgabe der Kirche und Musik in ihr ein kraftvolles Medium. Sie verliert meiner Ansicht nach nicht an Gewicht oder Würde, wenn sie sich auch dem Trösten der Einsamen und Isolierten widmet.
Improvisieren, erspüren
Die Lektüre des Buches war für mich eine Bereicherung. Zum Teil wurde sie mir allerdings durch manche Polemik erschwert. Das Ungleichgewicht der Kapitel lässt mich etwas unbefriedigt zurück; zumal Bayreuther, der Unklarheit abwerfen will, in seinem Lösungsansatz doch eher unklar bleibt. Auf den Grundgedanken möchte ich mich in den kommenden zu spielenden Gottesdiensten einlassen und das eine oder andere Stück erspürend improvisieren. Ich bin gespannt, was mir und der Gemeinde widerfahren wird.