Mit schnellen Urteilen über die eigene Zeit, gar Zunft, muss man vorsichtig sein. Gleichwohl scheinen zwei klassische Kennzeichen des Menschen gegenwärtig zu versickern: seine Fähigkeit wie seine Lust, Gott ins Spiel zu bringen. Und das weniger aus einer expliziten Abneigung gegenüber Gott, der stets „nah ist und schwer zu fassen“ (nach Hölderlin), als vielmehr aus Ratlosigkeit. Auf eine unverblümte Weise wurde dies in der Coronakrise deutlich. Mochten die Kirchen noch so energisch darauf beharren, dass ihr Tun „systemrelevant“ sei, so spielten sie bei einem der dichtesten Dramen der letzten Jahrzehnte eine höchst beiläufige Rolle. Sie hatten einfach nichts Wesentliches zu sagen, mühten sich, ihre Hilflosigkeit in seelsorgliche Bekümmertheit zu überführen. Der Verdacht lag nahe, dass der Gottesgedanke zur Welterklärung nichts beiträgt. Oder doch – nur eben kaum noch in der gewohnten, nunmehr erschöpften Sprache und Denkart?
Johannes Röser, langjähriger Chef-redakteur und jetzt Herausgeber, stellt in seinem neuen Werk unsere wundervolle wie tragische Existenz ins Zentrum. „Wie schön wäre es zu glauben!“, so ein Ausruf ganz zu Beginn. Warum eigentlich, so könnte man rückfragen. Eine mögliche Antwort: Weil dann – in der Form einer begründeten Option – die spannendste aller Menschheitsfragen eine Auflösung fände: Warum gibt es überhaupt etwas und nicht vielmehr nichts? Innerweltlich lässt sich das nicht klären, der schulmäßige theologische Bescheid aber überzeugt immer weniger. Bleibt also der klammheimliche, romantische Wunsch nach einem „Mehr“; im besten Falle nach einer Gottesrede, die mit dem geläufigen theologischen „Sprech“ wenig gemein hat?
Wer heute mit der Gottesfrage ringt, kommt um das Weltwissen nicht herum. Er muss kein Physiker oder Biologe sein, aber doch ein wacher Zeitgenosse, der bei dem Faktum ansetzt, dass sich das Lebensdrama – alles Leben und jedes Drama! – in einer „Werdewelt“ voller Zufälle und Notwendigkeiten abspielt. Diese fundamentale Einsicht kann nicht ohne Auswirkung auf den Gottesglauben bleiben. „Die Zukunft von allem ist: offen“, so Röser in seiner Exposition. „Und Gott – hat er Zukunft? Ist diese womöglich ebenfalls offen?“ Das mag querliegen zu dem beruhigenden Grundsatz, dass Gott der allen Wandel Durchtragende ist. Doch sind es gerade solche Beruhigungen, die das Evolutionäre des Kosmos nicht restlos anzunehmen scheinen; die Gott in eine Sonderwelt, in ein „Jenseits“ verpflanzen. Johannes Röser argumentiert, indem er bedenkt, was uns gegeben ist: die grenzenlos evolutive Welt. Sie brachte den Kosmos genauso hervor wie den Menschen mit seinem hochkomplexen Gehirn, mit seiner Neugier und seinen Revolten, mit seiner Sprache und dem Gottesgedanken: „Jeder Anfang ist ein Mysterium, voller Zauber und Unschärfe.“
Hier müssen wir ansetzen, dürfen uns alle Fragen erlauben, keine verbieten. „Die letzten Dinge treiben kritische Leute um. Ich muss mich nicht schämen, wenn ich mir dies vor mir selber eingestehe. Ich muss mich nicht schämen, wenn ich mich ihnen behutsamer, vorsichtiger, skeptischer nähere, als es vielleicht ein Kirchen-Katechismus oder eine Sonntagspredigt von mir erwartet.“ Es ist nur konsequent, wenn das Wort „Bescheidenheit“ an etlichen Stellen fällt. Als eine Tugend, die jede noch so originelle Einsicht unter den Vorbehalt der menschlichen Fehlbarkeit stellt.
Die grundlegenden Kapitel des Buches blicken auf das „rätselhafte Universum“ und die „Geburt des Menschen im Haus der Evolution“, um sich dann der Frage zuzuwenden, wie der Mensch „zu Gott fand“. Von der bei Anthropologen und Evolutionsbiologen beliebten These, die Religion sei ein günstiger Faktor beim „Kampf ums Dasein“, zugleich ein erstrangiger „Moralmacher“, ist Röser nicht vollends überzeugt. Er verweist auf die von Beginn an sperrige christliche Botschaft vom Kreuz wie auch auf den offensichtlichen Niedergang der überlieferten Religiosität in unseren kulturellen Breiten: „Wenn Glauben ein evolutiver Vorteil ist, was ist denn der evolutive Vorteil heute, nicht mehr zu glauben?“ Unbestritten sei jedoch die Erkenntnis von der Religion in Bewegung, vom Glauben, der mit dem denkenden Menschen mitwächst. Auch hier wendet sich der Autor gegen allzu triviale Erklärungsmuster: „Der Mensch denkt Gott nicht, weil er ihn ‚braucht‘… Sondern er denkt Gott, weil er ihn denken kann.“
Der im Glauben bejahte Gott kann trösten, ja, zugleich aber auch erschüttern, aus der gedanklichen wie realen Heimat vertreiben, scheitern lassen. Gerade an den Knotenpunkten der hebräischen Überlieferung wird dies deutlich. Es ist nicht wirklich viel, was der Gottesname, die vier Konsonanten JHWH, über Gott verrät. Und der „Ich-bin-da“-Gott bleibt schwierig, bilderlos, unberechenbar, an Gerechtigkeit interessiert, nicht an kultischen Opfern. Röser pointiert: „Ein abstrakter, unvorstellbarer Gott, wie ihn Mose gegen den anschaulichen Goldenes-Kalb-Nützlichkeitsgott seines Bruders Aaron verteidigt, ist schon gar nicht gemeinschaftsfördernd.“ Das gelte auch für die christliche Fortschreibung, für den verstörenden Kreuzesschrei, für das verschwebende Ostern. All das ist eher herausfordernd denn nützlich; beunruhigend, zugleich „unerhört anregend, aufregend, lebendig, mitten in der Evolution des Geistes“.
Ein Fazit Rösers fällt deutlich aus: Nicht in dem kirchenamtlich so gerne beschworenen „mangelnden Glaubenswissen“ ist der Kern der Glaubenskrise zu suchen, vielmehr in dem Missklang, der sich durch das Aufeinanderprallen von Naturwissenschaft und einem noch nicht vollends von magischen Versatzstücken gereinigten religiösen Denken ergibt. „Aus dem sakralen Geheimnis Gott ist das säkulare Weltenrätsel geworden. Jedoch keinesfalls ein Rätsel ohne Gott.“ Ein Scharniersatz. Ist er mehr als das Prinzip Hoffnung eines beharrlich-nachdenklichen Gottsuchers?
In welche Richtung sich das neue, zeitgemäße Gott-Denken entwickelt, ist noch unklar. Der „monarchische“ Gott aber, der im Grunde alles weiß und dem Weltendrama gegenübersteht, hat ausgedient. Das Spannende ist, dass diese Einsicht für die Theologiegeschichte keinesfalls neu ist. Gott sei „etwas, worüber hinaus nichts Größeres gedacht werden kann“, so die dürre, aber unerschöpfliche Definition des Anselm von Canterbury im 11. Jahrhundert. Für die – nicht nur – mittelalterlichen Mystiker konnte Gott, der Schöpfer, nicht so „sein“, wie wir „sind“. Die sog. „Prozesstheologie“ sah – horribile dictu! – auch Gott in Entwicklung. Und der Ordensmann, Paläoanthropologe und Mystiker Pierre Teilhard de Chardin (1881–1955) ist als ein – zeitweise geächteter – Avantgardist des kosmischen Gott-Denkens in die Geschichte eingegangen: „Die Zeit ist vorbei“, so zitiert Röser den Jesuiten, „da Gott sich uns einfach von außen her als ein Meister und Besitzer aufzwingen konnte. Die Welt wird in Zukunft die Knie nur mehr vor dem organischen Zentrum ihrer Evolution beugen. Uns allen fehlt mehr oder weniger derzeit eine neue Formulierung der Heiligkeit.“ Das klingt umstürzlerisch und befremdlich – wie so viele Ideen, die sich schließlich als geisterfüllt und befreiend erwiesen haben.
Johannes Röser, der in seinen „Zeitgängen“ viele der im Buch gebündelten Gedanken und Inspirationen entwickelte, mag sich keinesfalls dem Chor der Melancholiker und Schwarzmaler anschließen. Das wird insbesondere in den Kapiteln offenbar, die sich dem genuin Christlichen widmen. „Christus, die Ikone“, „Kirche – das bin doch ich!“, „Vergesst die Hoffnung nicht“ – so die Überschriften, Zurufe, Anleitungen. In jedem Kapitel wird deutlich, dass Christsein zunächst ein fortwährendes Staunen ist, eine Übung in Denken und Demut – eben kein „Wellnesstrip“!
Auch uns Christen bleibt das Anrennen gegen die Grenzen nicht erspart, doch dürfen wir unsere Zweifel im Geiste der Frohen Botschaft buchstabieren. „Und der Logos wurde Fleisch und wohnte unter uns, und wir haben seine Herrlichkeit angeschaut“, so der kapitale Satz aus dem Johannesprolog in der Übertragung des Schriftstellers Volker Demuth. Die Verzahnung von Wort und Fleisch, von Menschwerdung und Gottwerdung, kann tatsächlich als „das eigentliche Geheimnis des christlichen Abendlands“ (Demuth) bezeichnet werden. Aber diese Formel meint einen Weg, keinen Zustand. So passt es, wenn Röser an etlichen Stellen den ersten überlieferten Namen der christlichen Gemeinschaft wiederholt: der (neue) Weg (vgl. Apg. 9,2); wenn er Christsein als ein Arbeiten und Beten in der „Gefahrenzone“ sieht. Absturz und Enttäuschung sind möglich, genauso wie ein gläubiges Staunen und ein solides Ja zu dem von Christus vermittelten Monotheismus in Bewegung: „Der Christusglaube hat den Ein-Gott-Glauben aus einem provinzialistischen, stammesbezogenen Verständnis befreit und universalistisch bis ins Kosmische hinein geweitet.“ Ein kühner Satz, ja, doch „drunter“ geht es nicht. Um Gottes wie des Menschen willen!
„Auf der Spur des unbekannten Gottes“, dessen gedankliche wie spirituelle Fülle hier nur angedeutet wurde, lässt sich als ein Vademecum ansehen. Als ein Wegbegleiter für die Nachdenklichen, die um die Größe und das Elend ihres Gott-Denkens, ihres Glaubens wissen. Es ist ein Buch der österlichen Unruhe. Am Ende, auch das variiert Röser, wird jeder ein ganz persönliches Ja – oder auch Nein – zu Gott sprechen, flüstern, schreien: „Es kann im Glaubensringen eigentlich nur darum gehen: Gott Gott sein zu lassen. Sich Gott nähern in der Einsamkeit der eigenen Existenz, in der Ergriffenheit zwischen Endlichkeit und Unendlichkeit, in der Erschütterung von Sterblichkeit und Ewigkeit, Anfangslosigkeit und Anfang, in der Undurchschaubarkeit von Zufall und Notwendigkeit, in der Rätselhaftigkeit des Zusammenspiels von Materie und Geist, von Nichts und Allem, dem Unsichtbaren wie dem Sichtbaren. Denn darin besteht das wahre Wunder.“ Ein Buch zum Mitgehen, zum Wachsen.