Liliane JuchliDen ganzen Menschen im Blick

Ein Jahr ist es her, dass die Schweizer Ordensfrau Liliane Juchli im Alter von 87 Jahren gestorben ist. Mit ihrem Handbuch für die Pflege hat sie Generationen von Krankenschwestern und -pflegern geprägt.

Für ein Mädchen komme ich nicht nach Hause“, sagte Walter Juchli, als er hörte, dass seine Frau eine Tochter zur Welt gebracht hatte. Das geschah im schweizerischen Nussbaumen (Kanton Aargau) im Jahr 1933. Dort wuchs die kleine Klara in sehr einfachen Verhältnissen auf. Schon als Kind trug sie mit zum Unterhalt ihrer Familie bei. So sammelte sie im Frühjahr Veilchen und Schlüsselblumen, im Herbst Tannenzapfen und Pilze, die sie mit ihren Brüdern auf einem nahegelegenen Markt oder an den Haustüren verkaufte. Ihre Familie förderte das schulische Lernen nicht, so dass die nur mittelmäßige Schülerin die Schule nach der 8. Klasse verließ. Nach verschiedenen Haushaltspraktika begann sie mit 21 Jahren ihre Ausbildung zur Krankenschwester.

Klara Juchli liebte diesen Beruf, der seit dem Zweiten Weltkrieg auch in der Schweiz sehr gefragt war. Damals bekamen Krankenschwestern, wenn sie ihre Ausgehtracht trugen, in den Geschäften 20 Prozent und bei der Bahn sogar 50 Prozent Ermäßigung – Maßnahmen, die den Pflegeberuf auch heutzutage über anerkennende Worte und Applaus hinaus attraktiver machen könnten.

Größte Mühe verwandte sie auf das Pflegetagebuch, das sie als Schwesternschülerin im zweiten und dritten Lehrjahr führen musste. Wie nebenbei legte sie damit die Basis für ihr späteres Grundlagenwerk zur Krankenpflege: „Das Nachdenken, Kümmern und Befragen, was Pflege ist und bedeutet, wo sie wie angewendet wird, hat mich fasziniert. Ich wollte nicht nur mehr wissen, sondern vor allem bis ins Detail verstehen, was ich warum wann tun soll. So wurden meine Einträge von Tag zu Tag umfangreicher. Bald brauchte ich ein zweites, ein drittes Heft. Meine Begeisterung an allem, was mit Pflege zu tun hatte, führte so zu einem ‚Sammelwerk‘, das später als Lehr- und Lernstoff für die Krankenpflegeausbildung unserer Schule gebraucht wurde.“

Klara Juchli schätzte ihre Ausbilderinnen in der Krankenpflege – fast alle gehörten zu den Ingenbohler Schwestern. Diesen schloss auch sie sich 1956 im Alter von 22 Jahren an, wobei sie den Klosternamen Liliane wählte. Heute gehören dieser 1856 gegründeten Gemeinschaft 3500 Ordensfrauen in weltweit 450 Gemeinschaften an.

Seit dem Ende ihrer Ausbildung war Liliane Juchli als Pionierin unterwegs. Manche Techniken, die in der Patientenversorgung inzwischen fest etabliert sind, brachte sie mit auf den Weg. In erster Linie ging es ihr darum, Patienten nicht als defizitäre Wesen zu sehen, sondern genau zu erfassen, welche Möglichkeiten ihnen zur Verfügung stehen. Mit ihrer Phantasie und ihrem Improvisationstalent tropfte sie einem schwer verletzten Motorradfahrer ohne Bewusstsein ein paar Spritzer Orangensaft auf die Wangen, legte ihm später ein Orangenstückchen auf die Lippen und schob ihm schließlich etwas von der Orange in seine Wangentaschen, um ihm sinnliche Erfahrungen zu ermöglichen.

Binnen weniger Jahre hatte sich Liliane Juchli einen so guten Ruf in der Krankenpflege erworben, dass sie als Schulschwester eingesetzt wurde. Angesichts der damals noch fehlenden Handbücher griff sie auf ihre Pflegetagebücher zurück. Im Jahr 1963 absolvierte sie eine Ausbildung zur Schulschwester in Zürich. Auch hier überraschte sie die Ausbildungsleitung mit ihrer Mischung aus Begabung und Erfahrung. Beispielsweise sollte sie kurzfristig eine „Vorführ- und Probestunde“ unter dem Titel „Erste Hilfe bei Diplomschülerinnen“ abhalten. Als sie spazieren ging, hatte sie dafür ein Aha-Erlebnis: „Ich erinnere mich, dass ich plötzlich mitten in einer Baustelle stand und meine Taschen mit allem füllte, was am Boden lag, also Putzfäden, Brettlein und noch vieles mehr. Im Geiste sah ich nämlich, wie ich damit simulierte Knochenbrüche polstern und schienen könnte.“ Über die Umsetzung dieser Idee zeigt sie sich noch im Rückblick begeistert: „Am nächsten Tag ging ich voller Elan in die Klasse. Meine Idee war, den Schülerinnen zu zeigen, wie auch mit zufällig vorhandenem Material Erste Hilfe geleistet werden kann und oftmals auch muss. Nach der Lektion, so erzählte man mir später, habe der Fachexperte zu den Beobachterinnen gesagt: ‚Legt eure Kriterien auf die Seite. Diese Schwester könnt ihr nicht nach euren Vorgaben beurteilen. Sie ist ein Naturtalent.‘“

Mit ihrem Wechsel an die Schule und in die Schulleitung eröffnete sich für Liliane Juchli eine neue berufliche Ausrichtung. Umso wichtiger erschien es ihr, dass sie neben der Schule zumindest mit einem geringen Stundenumfang pflegerisch tätig blieb, damit sie an den Krankenbetten alle Neuerungen mitbekam und selber pflegerische Innovationen erproben konnte.

Ursprünglich zeichneten Liliane Juchlis Schülerinnen die von ihr gemalten Wandtafelbilder in ihre Hefte und brachten das zu Papier, was sie ihnen diktierte. Darüber hinaus stand bald ein Vervielfältigungsgerät zur Verfügung, mit dessen Hilfe Liliane Juchli den Schülerinnen ihre Manuskriptseiten zuerst als Loseblattsammlung, später gebunden zur Verfügung stellte. 1969 war es dann so weit: Ein 500-seitiges Manuskript, das später einmal ihr „Handbuch“ werden sollte, lag vor. Die Nachfrage stieg derart rasant, dass sie dem Bedarf mit ihrem Vervielfältigungsgerät nicht mehr nachkommen konnte. Der bis heute bei medizinischer Fachliteratur führende Thieme Verlag brachte ihr Werk 1973 als Buch heraus.

Als Liliane Juchli Mitte 40 war, plagte sie eine zunehmende Erschöpfung. Die seit Jahren unverminderte Arbeit in der Pflege, in der Schulleitung und an ihrem Fachbuch rief bei ihr eine schwere Depression hervor. Noch am Sterbebett ihres Vaters hatte sie an ihren Texten weitergeschrieben, bevor ihre schließlich mehrjährige innere Krise mit Macht losbrach.

Gerade diese Lebensphase der existentiellen Bedrohung sensibilisierte sie für eine neue Aufmerksamkeit gegenüber sich selbst. Sie begab sich in professionelle psychologische Behandlung, verabschiedete sich schweren Herzens von der Schulleitung, absolvierte eine dreijährige Ausbildung als Erwachsenenbildnerin und erlebte neue Sinnperspektiven in ihrem Kontakt mit Karlfried Graf Dürckheim im schwarzwäldischen Todtmoos-Rütte. Hier lernte sie, dass sie nicht einfach einen Körper hat, sondern Leib ist. Zudem realisierte sie, dass sie allzu lange die Bedürfnisse anderer auf Kosten ihrer eigenen menschlichen und spirituellen Wünsche bedient hatte.

In dem Maße, wie sie langsam wieder zu Kräften kam, fand sie auch geistlich vom Gefühl tiefer Gottesferne hin zur Gewissheit von Gottes Gegenwart. In ihrem Tagebuch schrieb sie: „Ich war krank, und jetzt – jetzt bin ich gesund. Gesund, lebendig – voller Freude und Glück! Leben, spürbares, quirlendes Leben als Geschenk!“

Angesichts dieser Grenzerfahrung stellte Liliane Juchli ihre Sorge um die Kranken unter ein Vorzeichen, das in den 1970er Jahren tatsächlich einen Neuansatz bedeutete: die ganzheitliche Pflege. Gemeint ist, dass die Pflegenden im Spannungsfeld von Ich und Du, von Geben und Nehmen lernen, für sich selbst und für die anderen gleichermaßen zu sorgen. In der Konsequenz galt der Pflegeberuf nicht länger als erlernbares Handwerk, sondern als eine Profession im Dienst am ganzheitlich verstandenen Menschen. So sah sie ihre Krankenpflege nicht einfach als Funktionspflege im Sinne eines Handelns am „Objekt Mensch“; vielmehr ging es ihr mehr denn je darum, dass sie jede pflegerische Maßnahme auf die Einzelpersönlichkeit des Kranken mit seinen individuellen körperlich-seelischen Bedürfnissen abstimmte. „Ich habe mir damals überlegt“, so sagt sie über sich selbst, „dass wenn jemand Schreiner werden will, er zuerst den Wald, den Baum und das Holz kennenlernen muss. Müsste es für Pflegende nicht noch wichtiger sein, dass sie sich zuerst mit dem Menschen auseinandersetzen: mit dem Menschen in seiner Ganzheit, seinem Gewordensein, seinem Lebensumfeld, in welchem er lebt, gesund ist oder krank wird?… Ich sehe jeden Menschen in seinen Bezügen zu sich selbst, zum Mitmenschen, zur Natur sowie zum ganz anderen, dem Göttlichen.“

In der Konsequenz stellte Liliane Juchli die vierte Auflage ihres Pflegehandbuches, die 1983 herauskam, unter die Perspektive der ganzheitlichen Pflege – ein Paukenschlag! Der Verlag bewarb diese Neukonzeption kurz und bündig so: „Auf der Grundlage eines ganzheitlichen Menschenbildes soll ein kompetent aufbereitetes Fachwissen den Lesenden zur Ausübung einer situationsgerechten, ganzheitlichen und personenorientierten Pflege befähigen.“

Diesen Ansatz einer ganzheitlichen Pflege hat Liliane Juchli weiter vertieft und vermittelt. Zum einen arbeitete sie kontinuierlich für die Neuauflagen ihres Pflegehandbuches. Zum anderen wurde sie mehr denn je zur gefragten und weitgereisten Referentin und schrieb weitere Fachbücher zum pflegerischen Umgang mit alten Menschen oder mit Sterbenden. Auch religiös durchprägte Bücher zu Themen wie „Schmerz“ oder „Verlust“ gehören zu ihrem reichen Lebenswerk. Dafür erhielt sie zahlreiche Auszeichnungen, darunter die theologische Ehrendoktorwürde der Universität Fribourg.

Noch bis zuletzt ermutigte Liliane Juchli die Pflegenden im Einsatz für die Corona-Kranken: „Halten Sie die Leidenschaft für das Mögliche lebendig! Bleiben Sie dran!“ Und sie, die als Christin der Gegenwart für viele Pflegende Vorbild war und bleiben wird, dankte den Krankenpflegerinnen und Krankenpflegern für all ihr Engagement in der Corona-Krise: „Pflege und Selbstpflege müssen sich die Hände reichen. In echter Sorge mit- und füreinander schaffen wir Zukunft.“ Liliane Juchli starb am 30. November 2020 an den Folgen einer Corona-Infektion.

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