Manchmal hat Papst Franziskus ein Gespür für die richtigen Momente, die richtigen Zeichen und die richtigen Worte. Im Advent ist er nach Zypern und Griechenland gereist. Er will die Augen für die lebensgefährliche Not öffnen, in die Menschen auf der Flucht geraten. Er will auch die Herzen der Menschen öffnen, den Geflüchteten zu helfen, eine bessere Zukunft zu haben, sei es zu Hause, sei es in einem Land, das sie aufnimmt.
In Belarus spielt ein Diktator sein grausames Spiel mit den Hoffnungen und Ängsten von Menschen, die angelockt werden sollen, damit sie Druck auf die europäischen Grenzen ausüben. Im Mittelmeer spitzt sich die Lage weiter zu: zwischen Afrika, Europa und Asien. Zypern, eine politisch geteilte Insel, liegt unweit der türkischen und libanesischen Küste. Griechenland ist der Frontstaat der europäischen Gemeinschaft, direkter Nachbar der Türkei. In beiden Ländern ist die katholische Kirche eine kleine Minderheit. Aber die Probleme machen an Konfessionsgrenzen nicht halt. Der Papst will zeigen, wo er steht: dort, wohin ihn seine christliche Verantwortung führt. Er setzt seine Autorität ein, um denen eine Stimme zu geben, die keine haben: Das ist echter Petrusdienst; dafür braucht die Welt den Bischof von Rom. In Lampedusa hat Franziskus angefangen. Jetzt macht er weiter.
Die Weltöffentlichkeit ist vom Corona-Virus gebannt. Tatsächlich muss der Pandemie-Bekämpfung volle Aufmerksamkeit gelten, besonders wenn nicht nur die Lage vor Ort, sondern die Situation weltweit vor Augen steht, von der Impfstoffverteilung bis zur Gesundheitsvorsorge. Aber durch Covid-19 wird kein Problem dieser Welt gelöst. Im Gegenteil: Jedes wird verschärft. In den Flüchtlingscamps grassiert die Seuche. Angst vor Ansteckung verschärft die Abwehrversuche der reichen Staaten Europas. Die Leidtragenden sind die Geflüchteten. Das Geschäft machen die Schleuser.
Aufmerksamkeit schaffen
Die Migration ist eine politische Herausforderung, weil sie durch extreme Ungleichgewichte an Wohlstand, Gerechtigkeit und Freiheit entsteht. Sie wird durch Kriege bestimmt, in die auch europäische Mächte, mindestens indirekt, verwickelt sind. Sie wird durch Umweltzerstörungen verschärft, Langzeitfolgen der Klimakrise, verursacht durch die Rohstoffausbeutung der Industriestaaten. Nur eine nachhaltige Wirtschafts- und Sozialpolitik, die global denkt, regional plant und lokal handelt, wird die Probleme verringern.
Die Migration ist auch eine moralische Herausforderung. Auf der sozialen Ebene geht es um Nothilfe, um die Verwirklichung der Menschenrechte, um Asyl, um geregelte Immigration und Integration. Auf der persönlichen Ebene geht es um Spenden, um freiwilliges Engagement in der Arbeit mit Geflüchteten und um Mitarbeit in Entwicklungsprojekten. Persönliche Initiativen können Strukturprobleme nicht lösen, aber kein System wird je so perfekt sein, dass es der individuellen Samariterdienste nicht mehr bedürfte.
Die moralische und die politische Ebene dürfen nicht verwechselt, aber auch nicht getrennt werden, weil die Politik eigenen Systemregeln folgt, die sich aber ethisch rechtfertigen lassen müssen, und weil die sozial- wie die individualethischen Aktionen politische Rahmenbedingungen nicht verkennen, aber verändern können.
Die politische und die moralische Verantwortung werden klarer, wenn Gott zum Thema wird. Für die meisten Menschen, die sich aus Afghanistan, aus dem Iran, aus Mauretanien oder dem Niger auf den Weg nach Europa machen, ist Gott ein Thema. Viele Konflikte haben religiöse Dimensionen, weil Gott für eigene Interessen in Anspruch genommen wird. Ohne dass die spannungsreichen Beziehungen zwischen Christentum, Judentum und Islam, zwischen Orthodoxie, Katholizismus und Protestantismus vor Augen stehen, werden weder politische Tiefenanalysen der Entwicklungen gelingen noch Bildungsmaßnahmen greifen.
Die Theologie erschöpft sich schnell, wenn sie nur verdoppelt, was mit gesundem Menschenverstand, großem Herzen und genauer Sachkenntnis ohnehin gesagt werden muss. Der Glaube wird peinlich, wenn er alles noch genauer erkennen, noch tiefer erleben, noch besser machen will. Die Kirchen sind gehalten, sich auf ihr Kerngeschäft zu konzentrieren.
Gott suchen
In den Erzählungen der Bibel werden die Dimensionen der Krisen, aber auch der Lösungen deutlich. Die Bibel führt zu den Wurzeln der aktuellen Auseinandersetzungen und zu den Räumen der Hoffnung, zu den Zeichen der Zeit und den Spuren Gottes mitten im Leben. Es braucht die biblische Perspektive, um die Gegenwart verstehen zu können. Der Weg zurück zu Abraham und Sara, zu Maria und Jesus, zu Petrus und Paulus lässt den Glauben, die Liebe und die Hoffnung entdecken, ohne die reine Trostlosigkeit herrscht, zynisches Machtkalkül oder übermütige Technokratie.
Die Bibel ist kein Handbuch der Migrationspolitik. Sie ist auch kein moralischer Katechismus. Man kann ihr keine unmittelbaren Handlungsimpulse entnehmen. Die Bibel ist ein Buch des Glaubens. Sie erzählt, wie unendlich nahe Gott den Menschen ist, unabhängig von Herkunft, Hautfarbe, Geschlecht und Religion. Sie erzählt auch, wie Menschen mit Gott hadern, wenn er sie im Stich zu lassen scheint, und wie sie ihn finden, wo sie ihn nie gesucht hätten.
Diese Geschichten, die Gebete und Gedanken des Glaubens sind nicht vom Himmel gefallen, sondern in genau den Regionen entstanden, die seit den Irak- und den Syrienkriegen wieder ein Hotspot der Weltgeschichte sind. Abraham zieht von Mesopotamien, aus dem Irak, nach Palästina, Joseph nach Ägypten, Mose aus Ägypten durch die Wüste ins Gelobte Land. Das Judentum verbreitet sich rund um die Ägäis, die heilige Familie flieht nach Ägypten, Paulus kommt aus Tarsus in Kleinasien nach Jerusalem und Damaskus, um in Syrien, in Zypern und Griechenland zu missionieren, bevor er, als Gefangener, nach Rom kommt.
Menschen sehen
Die biblischen Texte zeigen die Spuren ihrer Entstehungszeit; sie zeigen auch die Wunden, die Menschen auf der Flucht geschlagen werden, die Narben, die geblieben sind, und die Arznei, die verabreicht werden kann. Sie zeigen vor allem, wie Gott selbst auf der Flucht ist: mit den Menschen, die um ihr Recht, ihre Heimat, ihre Freiheit gebracht werden. Er ist auch mit denen, die aus ihrer Heimat aufbrechen, weil sie etwas Besseres suchen und dann mit Hoffnungen und Enttäuschungen, mit Überraschungen, Rückschlägen und Durchbrüchen zurechtkommen müssen. Die einen von den anderen zu unterscheiden, ist nicht immer leicht. Eine Flucht kann neue Möglichkeiten schaffen, ein Aufbruch kann der Not gehorchen.
Heute sind beide Gruppen vielfach vermischt: an der polnischen wie an der griechischen Grenze. Das Gesetz muss zwischen Asyl, Duldung und Einwanderung unterscheiden. Aber Menschen, die einer Katastrophe entkommen sind, wollen eine Zukunft haben: dort, wo sie hin-, oder dort, wo sie herkommen; und Menschen, die vorgeschickt werden, um die Chancen auf ein besseres Leben zu erkunden, sind größten Gefahren ausgesetzt und häufig mehr Getriebene als Gestärkte.
Gott ist, so die Bibel, auch mit denen, zu denen die Geflüchteten und Wandernden unterwegs sind. Er öffnet ihr Herz und schärft ihren Verstand. Er teilt ihre Sorgen und Ängste. Er schafft Frieden und Gerechtigkeit – mit allen Menschen guten Willens. Die Erzählungen der Bibel sind voller Erinnerungen an kritische oder beglückende Begegnungen von Menschen aus verschiedenen Kulturen, die Gebete der Bibel voller Sorgen vor Schwierigkeiten im menschlichen Miteinander, voller Klagen über Ungerechtigkeit und voller Dankbarkeit für beglückende Wendungen. Die Fülle der Eindrücke, die Widersprüche der Gefühle, die Unklarheiten der Veränderungen dürfen nicht verdrängt werden. So klar die moralischen Positionen und so entschieden die politischen Optionen sein müssen: In den Kirchen, die sich der Bibel öffnen, darf nicht nur das Gewünschte den Ton angeben. Es braucht auch die leisen Töne, die Gegenstimmen, die Bedenken und Befürchtungen ausdrücken, die Spannungen zwischen Wollen und Können. Predigten, die moralisieren oder politisieren, unterlaufen diese Wirklichkeit; sie unterbieten auch das Niveau der Bibel.
Das Weihnachtsfest wird mitten in unserer Zeit gefeiert: von Menschen zu Hause und auf der Flucht, in Kirchen und auf dem freien Feld, in Zelten und Höhlen, auf hoher See. Die Weihnachtsgeschichte selbst spielt in diesen Spannungen. Nach dem Lukasevangelium wird Jesus nicht in Nazareth geboren, wo die Familie lebt, sondern in Bethlehem, wohin Joseph seine Frau auf Druck des Kaisers Augustus hin mitnehmen musste. Dadurch kommt Jesus auf dem Hirtenfeld zur Welt und wird in eine Krippe gelegt: Gott ist bei den Ausgestoßenen, den Armen, den Hirten, den Schwangeren, die unterwegs ein Kind gebären. Es ist ein Zeichen, dass Jesus, der königliche Messias aus Davids Stamm, nicht in einem Palast, sondern in einem Stall oder einer Höhle geboren wird.
Wege bahnen
Matthäus weitet den Blick nach Osten und Westen. Zum einen kommen die Magier aus dem Orient, die an der Konstellation der Sterne die Geburt eines Königs in Israel erkannt haben; sie bringen die Weisheit des Ostens mit an die Krippe, auf dass sie nicht mehr verlorengehe, wenn die Nachfolge Jesu ihre Wege beginnt. Zum anderen wird Herodes zum Kindermörder und zwingt die Familie Jesu in die Flucht. Ägypten, die Fremde, wird zum Zufluchtsort. Das Sklavenhaus, das es für Israel geworden war, wird zur Asylstätte. Auch der Koran kennt diese Überlieferung: Weihnachten ist ein Fest mit Migrationshintergrund.
Wie es gefeiert werden kann, steht in den Sternen. Aber dass es gefeiert wird, ist wichtig: nicht nur für die christlichen Kirchen und in den Familien, den Krankenhäusern, den Altenheimen und Sozialeinrichtungen, auch für die ganze Gesellschaft, nicht zuletzt für die Kinder. Den Weihnachtsgruß zu vermeiden, besteht nicht der geringste Grund: Weihnachten wird gegen niemanden, das Fest wird vielmehr für alle gefeiert. Denn Gott ist auf der Welt – bei den Schwächsten, um sie zu stärken.