Der inzwischen bald neunzigjährige Alois Maria Haas gehört zu den wichtigsten Kennern und Über-Setzern mittelalterlicher Mystik. Nicht zuletzt die Meister-Eckhart-Forschung und -Vermittlung verdanken seinen zahllosen Veröffentlichungen viel. Diese ungeheure Gelehrsamkeit wirkt hier wie verdichtet. Mit der altersweisen Zusammenschau verbindet sich die ganz persönliche Note, nicht zuletzt dank der Schweizer Sprachfärbung, welche die mittelhochdeutschen Originaltexte beim Vorlesen plastisch zum Klingen bringt. Dazu kommt das liebevoll gestaltete Booklet, in dem wichtige Texte zweisprachig abgedruckt sind.
Besonders beeindruckt in all dem die spirituelle und intellektuelle Weite: Da kommt die alte philo-Sophia ins Spiel, und natürlich wird neben der mittelrheinischen auch die karmelitische Mystik angesprochen. Ständig ist zudem der Dialog zwischen Christus und Buddha präsent. Stets spürbar ist außerdem eine sensible Zeitgenossenschaft mit Wissenschaft und Atheismus. Die alte Metapher vom „wilden“ Denken steht nicht zufällig im Titel des Ganzen. Es geht bei „Mystik“ ja nicht um religiöse Sonderthemen, sondern um den Geheimnischarakter des Daseins im Ganzen und seinen absolut nicht selbstverständlichen Urgrund. Und das geht jeden und alle an.
Manch einer wird vielleicht den ersten einführenden Beitrag etwas akademisch steil empfinden. Er oder sie lasse sich davon aber nicht abschrecken! Ich wüsste kein besseres Weihnachtsgeschenk – für alle, die mit dem Sinn für Schönheit ihrer Sehnsucht nach authentischer Spiritualität folgen und sich mit modischen Eintagsfliegen nicht zufriedengeben. Die 188 Minuten vergehen, so anspruchsvoll und voraussetzungsreich sie auch sind, wie im Flug und laden zum Mehrfach-Hören und Meditieren ein.