Man kann mit Fug und Recht sagen, dass Jesus die eigene Bibel dazu benutzt, eine radikale Botschaft von Inklusion, Barmherzigkeit und Gerechtigkeit zu formulieren und zugleich die vorherrschenden Botschaften der Exklusion, der religiösen Selbstgerechtigkeit und der Verachtung und Unterdrückung der Underdogs, der Unreinen und der Sünder zu konterkarieren. Das kann man aufgrund des biblischen Zeugnisses nur schwer leugnen. Aber Christen werden immer wieder die Worte Jesu in den Wind schlagen und irgendwelche Stellen im Alten Testament finden, um ihre Anliegen – die Notwendigkeit von Gewalt, die Exkommunizierung bestimmter Leute oder die Rechtfertigung einer rächenden Gerechtigkeit – geltend zu machen. Wenn sich Religion mit der herrschenden Kultur verbindet, dann gewinnt in neun von zehn Fällen die Kultur! Das kann man gern als Norm nehmen. Viele unserer heutigen „Kulturkriege“ verstecken sich hinter Religion und picken dafür bestimmte Bibelstellen heraus, während sie in Wirklichkeit auf Geld, Krieg und Macht bauen. Jesus wird benutzt, damit sich das Ego fast perfekt tarnen kann – sogar sich selbst gegenüber.
Richard Rohr in: „Was die Bibel uns zu sagen hat“ (Claudius Verlag, München 2020)