Die Suche nach Eindeutigkeit und die Tendenz zur Vereindeutigung der Welt gehen einher mit dem Wunsch nach kontinuierlichem Fortschritt… Dieser Fortschrittsglaube hat neben dem Bereich der Wissenschaften auch auf eine interessante Weise in ganz spezielle Bereiche unseres Lebens Einzug gehalten. Ein Beispiel: Man stelle sich ein Vorstellungsgespräch vor. Die Kandidatin oder der Kandidat scheint perfekt geeignet, die Fähigkeiten passen haargenau ins gewünschte Profil, die Antworten fallen präzise aus, und auch die Ausstrahlung passt hervorragend… Doch dann wird sie wieder gestellt, diese eine Frage: „Sie haben da eine Lücke in Ihrem Lebenslauf – können Sie das erklären?“
Ohne Zweifel kann es im Lebenslauf Lücken geben, die auf Erfahrungen oder Ereignisse hinweisen, welche für eine Einstellung tatsächlich relevant sind. Doch hinter dieser Frage, die tagtäglich sicher abertausende Male gestellt wird, steckt die Vorstellung von einem kontinuierlichen Fortschritt des Lebens. Genauer: nicht die Vorstellung, sondern das Ideal und der Wunsch danach. Womöglich auch das Dogma. Als dürfte das Leben eben keine Unterbrechungen kennen, als dürfte es keine Lücken haben. Der Ambiguität, der Uneindeutigkeit wird sich nicht ausgesetzt. Brüche werden nicht als etwas wahrgenommen, was in die Lebensgeschichte integriert gehört, sondern sie werden als Scheitern aufgefasst und gebrandmarkt. Das ist, mathematisch formuliert, die Sucht nach der Linearität des Lebens, danach, dass das Leben eine Gleichung ist, die immer ganz glatt aufgeht und deren Ergebnis am besten von vorneherein feststeht.
Harald Lesch/Thomas Schwarz (in: „Unberechenbar“ (Verlag Herder, Freiburg 2020)